Donnerstag, 4. Februar 2016

Pharisäer Reloaded - oder vom Reiz der "Reizwörter"




Jesus stritt sich oft mit den Pharisäern. Nicht etwa, weil das böse Menschen waren. Im Gegenteil, sie meinten es sogar gut - in ihrem Sinne. Sie waren darauf bedacht, den Alltag peinlich genau nach den religiösen Regeln zu gestalten. Aber nicht nur ihren eigenen Alltag, sondern der Alltag aller. Anders gesagt: sie konnten gehörig auf die Nerven gehen! Mehr als ihre Pedanterie hielt ihnen Jesus ihre verdrehte Motivation vor.



Wenn wir heute von "Pharisäertum" sprechen, meinen wir nicht mehr eine der unzähligen Gruppen, die zu biblischen Zeiten ihre Vorstellungen von Religion durchsetzen wollten, sondern wir meinen eine Haltung.
Heutige "Pharisäer" sind Leute, die sich  ständig ins Leben anderer einmischen, um sie zu korrigieren. Sie fällen gerne moralische Urteile über andere und fühlen sich gut dabei.

Lange galt dieses Verhalten als unhöflich oder impertinent. In den letzten 10 Jahren aber beobachte ich ein dramatisches Anschwellen pharisäischer Besserwisserei und moralischen Auswurfs.

Selbstverständlich darf jeder seine Meinung zu allem haben und so leben, wie er es für richtig hält. Aber die Neopharisäer machen aus allem eine Glaubensfrage, nach der sie die Welt in gut und böse einteilen. In allen noch so nebensächlichen Fragen spaltet sich die Gesellschaft in zwei Lager: Impfgegner /-befürworter, Fleischesser/Veganer, Reformpädagogen/Alte Schule-Bildungstheoretiker, Ehe für alle/-nur für Mann und Frau etc. etc. etc. von Politik und Religion ganz zu schweigen.

Man könnte sagen, Lagerbildungen gehörten zum demokratischen Diskurs. Die einen sind dafür, die anderen dagegen, so what. Was dabei aber immer mehr unter die Räder gerät, ist die sachlich-inhaltliche Auseinandersetzung. Wenn pharisäische Gegner einen sofort des Rassismus bezichtigen, sobald man sich kritisch zu gewissen Religionen oder Volksgruppen äussert, heisst das, man WILL keine Diskussion. Gewisse Themen werden mit einem Tabu belegt. Um so stärker bildet sich dann auf der Gegenseite ein eigenes Pharisäertum und bald erstickt die Debatte unter der Last der gegenseitigen Schulzuweisungen und moralischen Verunglimpfungen.

Da übrigens die heutigen Pharisäer wissen, dass sie überhaupt nicht beeinflussen können, was andere Menschen TUN, versuchen sie wenigstens Einfluss zu nehmen, wie andere REDEN (zumindest ihnen   SPRACHLICH ein schlechtes Gewissen zu machen

Man erkennt die Neopharisäer schon an ihren ersten REAKTIONEN auf gewisse REIZWÖRTER.

Anstatt nun Reizwörter zu vermeiden, um sich nicht dem Zorn irgendwelcher Besserwisser auszusetzen, sollte man umgekehrt ein reizvolles gesellschaftliches Experiment verfolgen: anhand der Reizwörter und der Reaktionen die Pharisäergruppe  identifizieren und die Pharisäerstärke  berechnen.

Sprechen Sie also in einer Gruppe das Wort "Islamisierung" aus - und schauen Sie, wie das Gegenüber reagiert. Oder das Wort "EU-Skeptiker" oder "EU-Beitritt" oder "Genderismus" oder "Feminismus" oder "Linke" oder "Homöopathie" oder "Schulmedizin".

Wenn das Gegenüber nicht nachfragt, was und wie Sie es genau meinen, sondern sofort ein Statement parat hält ("das ist rassistisch/das ist Kuscheljustiz/das ist aber beleidigend" etc.), wissen Sie, dass Sie einen Neopharisäer vor sich haben.

Schreiben Sie in die Kommentarspalte, was Sie mit diesem Experiment für Erfahrungen gesammelt haben. Wir sind gespannt!

(P.S. eine erste Reaktion auf diesen Blog stammt von einer Religionswissenschaftlerin. Sie weist mich darauf hin, dass ich den Begriff "Pharisäer" pejorativ verwende und somit potentiell eine Bevölkerungsgruppe verunglimpfe. Potentiell auch nur deshalb, weil es diese Gruppe seit ca. 1900 Jahren nicht mehr gibt)










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