Dienstag, 11. Dezember 2012

Weihnachten: Die Menschwerdung des Menschen



Letztes Jahr erhitzte mein Landbote-Artikel einige Gemüter.
Der Artikel warf ein Licht auf die historisch-kritische Bibelforschung und ihre Ergebnisse:
"Ist die Weihnachtsgeschichte wahr?"
war einigen Leserbriefschreibern (nicht allen) zu modern und irritierend. Dabei beruht das Ganze nur auf genaue Bibellektüre in ihrem historischen Kontext, so wie sie seit über 150 Jahren an den theologischen Fakultäten üblich ist.
 
Wirklich modern, im Sinne von hochaktuell scheint mir hingegen die existenzielle Bedeutung der Weihnachtsgeschichte selbst! Es geht darin um die Geburt eines bestimmten Menschen. Traditionell spricht man von der "Menschwerdung Gottes".  Aber was bedeutet das für mich persönlich, wenn ich mal auf dogmatische Worthülsen verzichte? Was bedeutet "Menschwerdung Gottes" für uns Menschen - existenziell?

Nicht nur durch meine Arbeit mit Jugendlichen bin täglich mit der Frage konfrontiert, wie ein Mensch (ob jung oder weniger) sich SELBST sein, werden, bleiben darf. Wie also der Mensch Mensch werden kann, und zwar kein Idealmensch oder Wunschmensch, sondern ein ganz bestimmter Mensch, ein Subjekt.
Die lebenslange Aufgabe, das zu entfalten, was in einem angelegt ist, mithin also ein Selbst auszubilden, das von Anfang an da -aber auch von Beginn an gefährdet ist durch Herodesfiguren aller Art-, bedingt einen ungeheuren psychischen Aufwand. Und hat m.E. eine tief religiöse Dimension.
«Die Frage nach Gott im Prozess der Subjektwerdung findet nur Antwort, wenn die Auseinandersetzung und der Kampf des Selbst im Licht der Menschwerdung Gottes verstanden wird»,  schreibt Anne M. Steinmeier in ihrer Habilitationsschrift ("Wiedergeboren zur Freiheit",
S. 200). In JEDEM menschlichen, subjektiven Selbstwerdungsprozess kommt Gott je neu zur
Welt, freilich ohne in der Bestimmtheit des Endlichen aufzugehen.

Ich verstehe die Krippenszene gleichsam als Urbild dieses menschlichen Unterfangens und der menschlichen Sehnsucht nach der Freiheit, sich selbst sein zu dürfen.
Denn:
«Freiheit gründet darin, dass ein Mensch als ein Selbst geboren wird», schreibt Steinmeier weiter (S.195), das von Anfang an da ist und kein Produkt– weder der Eltern, noch der Gesellschaft, noch Gottes – darstellt. Diese Wahrnehmung der Freiheit ist nicht ohne Schrecken: Freiheit ist gefährdet, das Selbst zutiefst verletzbar. Davon zeugt leider der weitere Verlauf der Weihnachtsgeschichte: Flucht und Exil.

Die Botschaft von Weihnachten war damals revolutionär und ist immer noch aktuell. Auf wen gehen denn heute noch Diktatoren und Machtbesessene als erstes los? Wer ist der erklärte Feind aller geschlossener politischer oder sektiererischer Systeme? Doch der freie, sich seines Selbst bewusste Einzelne!

Jesus war so ein Selbst-bewusster, der anderen die Freiheit brachte, sich selbst zu sein. "Menschwerdung Gottes" korreliert mit der "Menschwerdung des Menschen".
Das wesentliche und heikle Unterfangen des menschlichen Subjektwerdens kann als Prozess der Gotteswirklichkeit selbst verstanden werden.

Dass dieses Unterfangen gelingen möge - bei jedem von uns - das ist mein Weihnachtswunsch 2012!

............................................................................................................

Bruno Amatruda ist Religionslehrer an der Kantonsschule Rychenberg