Mittwoch, 4. Dezember 2013

Bücher unter dem Weihnachtsbaum

Wieso nicht ein Sachbuch zu Weihnachten schenken? Drei Bücher ragten diesen Herbst aus dem Gros der Neuveröffentlichung speziell heraus.




Martin Miller beschreibt in "Das wahre Drama des begabten Kindes" seine Kindheit als Sohn der berühmten Alice Miller. Dass die Schweizer Kindheitsforscherin als Mutter den eigenen Erziehungspostulaten alles andere als entsprochen hat, mag hartgesottene Fans schockieren. Sohn Martin, selbst Psychotherapeut, rekonstruiert dabei die Kindheitstraumata der im Warschauer Ghetto aufgewachsenen Alice Miller und kann das Erlittene als transgenerationales Trauma verarbeiten. Trotz der bisweilen beklemmenden Schilderungen; nie hat man das Gefühl, hier rechne einer mit seinen prominenten Eltern ab. Vielmehr liefert der Autor -welcher an der Theorie der Mutter grossmehrheitlich festhält und sie gleichsam an seiner eigenen Biographie erprobt- ein anschauliches Beispiel, wie Millers Ideen in der Praxis umgesetzt, geprüft und erweitert werden können. Ein so aufrüttelndes wie lehrreiches Buch.

Hans-Martin Barths Buch "Konfessionslos glücklich" las ich mit viel Gewinn. Es hält Forschungsergebnisse und Analysen parat, die sich mit alltäglichen Beobachtungen all jener decken, die sich nicht ausschliesslich im kirchlichen Binnenraum bewegen: die meisten Menschen in unserem Kulturkreis sind weder dezidiert atheistisch noch dezidiert religiös. Sie schwanken vielmehr zwischen areligiös (d.h. and religiösen Fragen schlicht uninteressiert) und "spirituell-aber-nicht-religiös"- in Holland etwa die "Etwasisten". Solche Menschen glauben, es gebe da "Etwas", aber scheuen sich partout vor näheren Bestimmungen. Ihr Merkmal ist die institutionelle Ungebundenheit. 
Statt den Zustand zu beklagen und z.B. Areligiösen ein existenzielles Manko anzudichten  (weil der Mensch angeblich "unheilbar religiös" sei), nimmt Barth die Fakten auf und bringt Bonhoeffer ins Spiel. Aller angeblichen "Wiederkehr der Religion" zum Trotz (-welche m.E. in unseren Breitengraden eh nur ein mediales Phänomen war) überlegt sich der Autor, wie Bonhoeffers unvollendetes Programm der nichtreligiösen Interpretation theologischer Begriffe konkret umzusetzen wäre. Ein Buch, das zum Weiterdenken anregt. Und das den Herausforderungen, vor denen die evangelischen Kirchen stehen, grundsätzlich -und nicht einfach nur strukturell-organisatorisch- begegnen will.

An einer Stelle zitiert Barth -für einen ehemaligen Theologieprofessor doch unüblich- den Franziskaner Richard Rohr. Das ist kein Zufall, denn Rohrs Publikum dürfte sich in grossen Teilen aus jenen spirituell Suchenden und kirchlich Offenen bis Distanzierten zusammensetzen, die Barth in seinem Buch beschreibt.

In "Das Wahre selbst. Werden, wer wir wirklich sind." richtet sich Richard Rohr explizit an Gläubige und Nichtgläubige. Obwohl er seinen katholischen Hintergrund immer wieder ins Spiel bringt, sind die Erfahrungen, auf die er abzielt, auch (womöglich erst recht) jenseits  dogmatischer  und religiöser Grenzen möglich. D.h. sie stehen allen Menschen guten Willens offen. Das Buch beschreibt das Ziel der kontemplativen Wege und das eigentliche Ziel jeder Religion: das wahre Selbst zu entdecken und dem falschen Selbst abzusterben. Das Buch ist keine Anleitung zur Kontemplation (wenngleich durchaus eine Ermutigung), sondern setzt sie vielmehr voraus. Ein paar Schwächen sind zu anzumerken; viel Namedropping, viele unnötige Zitate, etwas Sprunghaftes. Ausserdem eine Breitseite gegen die Psychologie (wieso eigentlich?), statt einer sauberen begrifflichen Abgrenzung; wo doch die Rede vom "falschen Selbst/wahren Selbst" sehr wohl auch eine psychologische Geschichte (Winnicott, Kohut) aufweist. 
Die Stärke des Buches sind die biblischen Verweise. Ob man nun selbst Meditationserfahrung hat oder nicht; wie Rohr biblische Geschichten, Gleichnisse und theologische Gemeinplätze aus seiner mystisch-kontemplativen Warte aus interpretiert, ist überraschend, erfrischend und kommt m.E. der "nichtreligiösen Interpretation religiöser Begriffe" sehr nahe. Ein im wahren Sinne des Wortes erbauliches Buch.


 Bruno Amatruda unterrichtet Religion am Gymnasium



Donnerstag, 19. September 2013

Sogar die reformierte Kirche hat den Säkularismus noch nicht ganz verdaut.


Wenn, Muslime, liberale Kirchen und sogar die evangelikale Evangelische Allianz zusammenspannen, lässt das aufhorchen. Gibt es ein gemeinsames Anliegen oder haben sie nur einen gemeinsamen FEIND?



Dass Religionen sich für Religionsfreiheit einsetzen, leuchtet jedem ein. Doch welche Motivationen stecken hinter dem politischen Engagement vieler Kirchenvertreter, zumal wenn sie sich für die Rechte anderer Religionen einsetzen?

Es fällt auf, wie oft christliche Exponenten in letzter Zeit die religiösen Anliegen der Muslime unterstützt haben:

Im Vorfeld der Minarettinitiative gaben der Schweizerische Evangelische Kirchenbund und die Zürcher Landeskirche ein klares Nein als Parole ab. Der Verbot von Minaretten sei nicht das geeignete Mittel, Integrationsprobleme zu lösen.
Ein ehemaliger Pfarrer zahlt aus eigenen Mitteln die Bussen, welchen muslimischen Frauen in Basel auferlegt wurden, weil sie verschleiert das Schwimmbad besuchten oder die Töchter vom Schwimmunterricht fernhielten.


Für Tilla Jacomet von der Rechtsberatungsstelle für Asylsuchende des evangelischen Hilfswerks Heks ist es untragbar, Schülerinnen wegen eines Kopftuchs von der Schule zu weisen, wie sie in «10vor10» sagte.

Der emeritierte Theologieprofessor Werner Kramer präsidierte das „GMS Projekt-Muslimische Grabfelder", das 2012 in Winterthur die Errichtung eines nur für Muslime bestimmten Grabfeldes erwirkte.

Nun ist es in einer Demokratie erwünscht, sich in die politische Diskussionen einzubringen. Das gilt sowohl für den einzelnen Bürger –und auch Kirchenvertreter sind Bürger-  wie auch für Institutionen.

Kirchliche Abstimmungsparolen haben eine lange Tradition und sind Teil des demokratischen Prozesses.
Dass getroffene Entscheide –etwa einer Schulleitung- kritisiert werden, ist der freien Meinungsäusserung geschuldet.
Wenn religiös motivierte Gesetzesbrüche unterstützt werden, in dem man für die Geldstrafen aufkommt, mag man dies als heroisch sich gebärdenden Einzelfall von zivilem Ungehorsam belächeln.

Und in der Errichtung von Grabfeldern für eine bestimmte Gruppe kann auf den ersten Blick ein Effort zum friedlichen Zusammenleben der Religionen gesehen werden.



Das säkulare Prinzip wird unterwandert




Und doch bleibt bei alledem ein mehr als bitterer Nachgeschmack zurück. Das Beispiel der Friedhöfe ist symptomatisch:
Wenn Muslime auf öffentlichen Friedhöfen separierte Felder erhalten, wird durch die Hintertüre wieder ein religiöses Ordnungsprinzip eingeführt, das seit 150 Jahren überwunden war. Aufgrund der Wirren des Sonderbundskrieges wurde mit der revidierten Bundesverfassung von 1847 das Bestattungswesen säkularisiert. Das heisst nicht einfach nur, dass die vormals kirchliche Verwaltung auf den Staat übergeht. Säkularisierung bedeutet vielmehr ein neues Axiom, welches das konfessionelle ablöst. Der Staat hat im öffentlichen Friedhof den Primat bernommen und wacht darüber, dass keine Konfession benachteiligt und jeder Bürger gleicht behandelt wird. 

Dieser urliberale Gedanke wird aber mit der Errichtung muslimischer Grabfelder geradezu untergraben: Will etwa ein gemischt-religiöses Ehepaar nebeneinander bestattet werden, stehen ihm Familiengräber zur Verfügung. Allerdings nicht auf dem muslimischen Grabfeld; dieser ist dem nichtmuslimischen Partner verwehrt. Die Friedhofsordnung beugt sich in diesem Punkt islamischem Recht und verlässt das Gleichheitsprinzip. Wir stehen so wieder vor längst überwunden geglaubten konfessionellen Konflikten, die wesentlich die Frage unseres Staats- und Rechtsverständnisses berühren. 

Der liberale Staat ist säkular. Er kann religiösen Bedürfnissen nur so weit entgegenkommen, wie sein säkularer Charakter dabei gewahrt wird.



Es ist löblich, dass Kirchenvertreter sich für die Bedürfnisse von Minderheiten einsetzen. Sie argumentieren mit Toleranz, Integration und Religionsfreiheit. Doch verstehen sie Religionsfreiheit immer im Sinne von Rechten für die Religionen.
Der ursprüngliche, liberale Religionsfreiheitbegriff meint aber in erster Linie Freiheit von Religion auf öffentlichem Grund. Als Konsequenz davon wird das Religiöse ins Private verdrängt.
Der Verdacht drängt sich auf, dass der kirchliche Einsatz für andere Religionen nur teilweise altruistisch motiviert ist und herkömmlich disparate kirchliche Gruppen nur deshalb zusammenspannen, weil sie einen gemeinsamen Feind ausmachen: den säkularen Staat. Diesen empfinden sie als Bedrohung.
Da dieses Gefühl aber auch auf viele Muslime trifft, ergibt sich eine Allianz gemeinsamen Unbehagens am weltlichen Staat.
Einwanderern kann dies natürlich nicht vorgeworfen werden – ihnen muss unser Staatskonzept vielmehr erklärt werden.
Kirchliche Säkularismusskepsis –zumal landeskirchliche- gibt einem Liberalen hingegen zu denken.

Donnerstag, 23. Mai 2013

Homo-Ehe: Bei den Evangelikalen stellt sich ein Umdenken ein.

Die Kirche tat sich lange schwer mit dem Thema Homosexualität. Um die Jahrtausendwende wurde noch in der Synode der Zürcher Landeskirche heftig darüber debattiert, den reformierten Pfarrern schliesslich aber die Möglichkeit von Segnungsfeiern für gleichgeschlechtliche Paare eröffnet. Deutsche Landeskirchen erlaubten letztes Jahr homosexuellen Pfarrpersonen, mit ihren Partnern/-innen das Wohnen im Pfarrhaus. Auch das ging nicht ohne zum Teil heftigen Diskussionen ab. Und dass die christliche LGTB-Gemeinschaft trotz vieler Fortschritte mancherorts noch um Anerkennung kämpfen muss, zeigte jüngst eine Tagung in Zug (die Reformierte Presse vom 17.5.13 berichtete).




Lange schien immerhin klar, dass sich Evangelikale in den Landeskirchen und erst recht die Freikirchen aufgrund ihrer Bibelauslegung gegen die Anerkennung gleichgeschlechtliecher Liebe stellen mussten: In den USA etablierten sich unter den Konservativen Umpolungsprogramme wie "Living Waters", welche homosexuell empfindende Menschen von ihrer sexuellen Orientierung "heilen" sollten. Mittlerweile gibt es nicht nur eine Ex-Gay-Szene, sondern wachsend sogar eine Ex-ex-Gay-Szene bestehend aus Schwulen und Lesben, die sich -natürlich erfolglos- einer solchen Umpolung unterzogen haben.
Und obwohl die konservativen Hardliner nach wie vor am Werk sind (und etwa in Uganda unheilige Allianzen mit homophoben Lokalpolitikern eingehen), scheint sich in der amerikanischen evangelikalen Szene etwas zu tun: Im Zuge der legalen Anerkennung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften in einigen US-Bundesstaaten zeigte die Diskussion in den Kirchen, dass die Evangelikalen sich nicht mehr so einig sind.

Es sind prominente Exponenten des US-Evangelikalismus, die -vorsichtig oder dezidiert- eine Kehrtwende einleiteten.
Auf unterschiedliche Weise, aber in der Sache einig brachten in den letzten Wochen bekannte Pastoren wie Brian McLaren (vgl. Artikel), Rob Bell (vgl. Artikel) und Jim Wallis, Mastermind der linksevangelikalen Sojourners-Kommunität in Washingten ihre Argumente FÜR die Homo-Ehe vor.
Letzterer gibt in einem Interview zu Protokoll, dass "mittlerweile 62% der jungen Evangelikalen die Homo-Ehe befürworten." (“Young believers, 62 percent of young evangelicals now support marriage equality.”).


Wie früher die Bibel zur Rechtfertigung der Sklaverei oder zur Unterdrückung der Frauen missbraucht wurde, so der Tenor, würde sie heute fälschlicherweise zur Missbilligung der gleichgeschlechtlichen Liebe herangezogen.

Diese Wende basiert dabei nicht etwa auf opportunistische Anpassung an den Zeitgeist, sondern auf einer aufmerksamen Relektüre der biblischen Texte selbst. Beispielhaft etwa im Aufsatz eines der führenden britishen Evangelikalen: Steve Chalke.


Dass die Revidierung althergebrachter Meinungen nicht konfliktfrei vonstatten geht, versteht sich von selbst. Pastoren, die modernere Ansichten vertreten, müssen im Extremfall mit Kündigungen rechnen. Andere werden mit dem Vorwurf der Häresie vorlieb nehmen müssen. Freilich, prominente Megapastoren ficht das wenig an. Sie mögen am rechten Rand Anhänger verlieren, aber am andern neue, junge gewinnen. Denn Umfragen zufolge tendieren junge Evangelikale im Vergleich zur Elterngeneration viel stärker nach links: Themen wie Umweltschutz, Armut, soziale Gerechtigkeit und Schutz von Minderheiten sind in das Bewusstsein der jüngeren Gläubigen gerückt.

Heute predigen in (vielen) Freikirchen selbstverständlich auch Frauen. Das war vor wenigen Jahrzehnten noch undenkbar. Denkbar ist also, dass evangelikale Christen auch in der Frage gleichgeschlechtlicher Liebe in Zukunft eine Öffnung vollziehen werden, welche es homosexuellen Christinnen und Christen ermöglicht, sich in ihren Gemeinden ganz akzeptiert zu fühlen.


Dienstag, 9. April 2013

TARDELLIS TOR: Eine ekstatische Erfahrung



Fussball mag für viele eine (Ersatz-)Religion sein. Andere sehen darin nur ein Riesengeschäft. Aber was erlebt ein Fussballer selbst im Moment des Triumphes oder der Niederlage?

Einen spannenden Einblick in einen solchen Moment gewährt uns Marco Tardelli in diesem kurzen Video.




Am 11. Juli 1982 standen sich Italien und Deutschland im WM-Endspiel gegenüber. Italien dominierte und lag bereits 1:0 vorne, als Tardelli in der 69. Minute den Ball an Toni Schumacher vorbei ins Tor schob. Sein anschliessender frenetischer Torjubel ging in die Geschichte ein. Für uns Tifosi war klar: DAS IST die Entscheidung, denn wie sollte Deutschland in 20 Minuten uns noch einholen können?
Es ist KAIROS, Entscheidungszeit! Das ist der Moment: JETZT, genau jetzt erleben wir Fussballgeschichte. Die allermeisten erlebten das zum ersten Mal in ihrem Leben als Fan (der letzte italienische Titel datierte von 1938).

Doch was erlebte Marco Tardelli in diesem Moment?
In seiner Erinnerung beschreibt er etwas, das im Ansatz einer Nahtoderfahrung ähnlich ist: „Ich dachte an meine Familie in Italien, an meine Brüder. Und dann sah ich mein ganzes Leben vor meinen Augen vorbeiziehen. Wie wenn man im Sterben liegt, sagt man. Ich sah mich selbst als kleinen Jungen, der anfing, Fussball zu spielen. In dem Moment  erreichte ich das Ziel, das jeder Junge anstrebt. – Eine wundervolle Erinnerung, die ich hoffentlich meinen Kindern weitergeben kann.“

Wir haben es hier mit einer exstatischen Erfahrung zu tun. Auch mit einer religiösen Erfahrung? Ich weiss es nicht.
Das „Setting“ einer solchen Veranstaltung –sei das Olympia, sei das eine Fussball-WM- trägt natürlich das Ausserordentliche bereits in sich. Nur alle vier Jahre treffen sich die besten der Welt, um die allerbesten zu küren.
Die Durchbrechung des Alltags, die Inszenierung und das Ritual, die Erwartung (einer Epiphanie?).... Solche Strukturelemente haben Sportfeste und religiöse Feste durchaus gemeinsam.

Die ekstatische Erfahrung aber, die kann man nicht „machen“. Die ereignet sich –oder eben nicht.
So mögen die nicht-Eingeweihten den Sport als Pseudoreligion, als potentiell gewalttätig oder als Geldmaschinerie abtun – genau so wie Religionsfeinde die Religion einseitig als Macht- und Unterdrückungsapparat sehen. Dem SUBJEKTIVEN ERLEBEN des Gläubigen oder des Sportlers kann dies in einem solchen Moment  nichts anhaben.
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Bruno Amatruda ist Religionslehrer (und Fussballfan)

Donnerstag, 28. März 2013

Erlösung durch Hinrichtung?





Für viele steht und fällt das Christentum mit dem Opfertod Christi. Dass Jesus "für unsere Sünden" gestorben sei, mache das Wesentliche unseres Glaubens aus. Im 11 Jhdt. stellte Anselm von Canterbury die These auf, dass nur die Opferung des Gottessohnes für uns Vergebung und Erlösung bei Gott erwirken könne, indem dieser unsere Strafe auf sich nimmt.   


Befriedigt diese Theorie? Tröstet sie unser Gewissen? Oder führt sie uns in Konflikt mit unserem Gottesbild und unserem Gerechtigkeitssinn?
Gott vergibt, ja.  Aber MUSS er hierfür seinen Sohn unschuldig töten lassen? Ist das dann noch ein liebender Gott?
Sogar wenn wir mit Anselm sagen, Gott selbst habe am Kreuz gehangen, bleibt die Frage: wozu die ganze Inszenierung? Kann Gott nicht EINFACH SO VERGEBEN?

Schliesslich die Frage: entspricht diese Art von Opfertheologie eigentlich der Bibel?
Die Antwort ist Ja und Nein. Allerdings mehr Nein als Ja.
Es gibt zwar tatsächlich an einigen Stellen die Vorstellung eines Sühneopfers. Wobei aber nicht Gott versöhnt werden muss, sondern der  Mensch (vgl. 2. Kor 5). Zu beachten ist dabei, dass das jüdische Vorverständnis von Versöhnung und Entschuldung mit dem Opfergedanken verknüpft ist. Ohne Darbringung eines Tieropfers war Vergebung undenkbar. Daran knüpft etwa auch der Hebräerbrief an, freilich um jede Art von Opfer auch gleich wieder aufzuheben: Da Christus das letzte und ultimative Opfer erbringt, sind Opferungen fortan obsolet. Ein für christliche Theologie typischer Vorgang: ein Sachverhalt wird in der Vorstellungswelt der Adressaten ausgedrückt und gleichzeitig radikal verändert.

Dennoch: Vergebung ist völlig unabhängig vom Opfergedanken möglich. Es ist niemand anders als Jesus selbst, der das predigte und vorlebte. Als er deswegen von frommen Pharisäern angegriffen wurde, zitierte er eine Stelle beim Propheten Hosea, wo Gott spricht: „Ich habe Wohlgefallen an Barmherzigkeit und nicht am Opfer“ (vgl. Matth. 9,9 ff).

Übrigens kommt auch Paulus in seinem berühmten „Wort vom Kreuz“ (1. Kor 1) ohne Opferidee aus. Und im Johannesevangelium ist das Heil gar nicht erst mit dem Tod Jesu verknüpft, sondern entspringt dem Glauben, d.h. dem Vertrauen in seine Person.

Die Bibel vertritt also –wie in ganz vielen Themenfeldern- auch in dieser Frage keine einheitliche Sichtweise. Wieso hat sich die Satisfaktionslehre dennoch durchgesetzt?

In hierarchisch strukturierten Gesellschaften, deren Mitglieder von Rechtsungleichheit und Abhängigkeitsverhältnissen geprägt sind –charakteristisch für die Antike und das Mittelalter- konnte die Überzeugung befreiend wirken, niemand Geringerer als der Gottessohn übernehme unsere Schuld, bzw. unsere Strafe. Das „Übernehmen“ wurde dabei wörtlich verstanden.
Seit der Aufklärung und dem Aufstieg des freien Bürgers aber ist die Opfertheologie zusehends in Misskredit geraten. Für Immanuel Kant etwa widerspricht eine stellvertretende Bestrafung geradezu dem modernen Rechtsempfinden, dem nur Genüge getan wird, wenn ein jeder selber für die eigene Schuld gerade steht. Aus diesem Grund lehnen wir heute ja z.B. die Sippenhaft ab.

Ist der Karfreitag nun also erledigt?
Nein. 
Wenn wir des Todes Christi gedenken, schauen wir auf einen Menschen, der bereit war, für seine Überzeugungen bis zum Äussersten zu gehen. Wir sehen einen Menschen, der  Opfer einer Intrige wurde, aber darauf verzichtete, als Opfer selber Täter zu werden. Ein Mensch, der seine Menschlichkeit bis zum Ende nicht aufgab.
Jesus lebte eine Leben für andere. Da er dafür Konflikte und sogar den Tod in Kauf nahm, lässt sich  auch sein Sterben als Konsequenz davon durchaus auch als ein Tod-für-Andere verstehen.
Schliesslich: Wenn in Jesus Gott präsent ist, so ist Gott selbst nicht nur Mensch geworden, sondern hat sich am Karfreitag in den schrecklichsten Abgrund menschlicher Existenz begeben. Gott führt nur deshalb aus dem Elend wieder hinaus, weil er selbst im Elend und im Leid gegenwärtig ist.  

Seelsorgerlich gesehen ist das Festmachen der Vergebung an ein Äusseres durchaus sinnvoll. Es GIBT Vergebung, ganz unabhängig davon, wie ich im Moment der Anfechtung darüber denke. Diesen Sachverhalt stellt die Sühneopferidee dar.  Und zwar  nach der (salopp gesagt) Grundregel jedes Drehbuchautors "show, don't tell". Die dramatische Ausgestaltung ist immer wirksamer als die blosse Behauptung, dass Gott vergibt.
Die einen tröstet also der Gedanke, Jesus habe unsere Schuld auf sich genommen als freiwilliges Opfer.

Andere bringen die Idee des Opfers nicht mit dem Bild eines liebenden Gottes in Einklang. Im Gegenteil kritisieren sie diese Idee. Und auch sie finden in der Bibel gewichtige Anhaltspunkte für ihre Kritik.
Ja, dass Gott Jesus nicht im Tod belassen hat, sondern zu Neuem Leben aufwerweckt, stellt für sie die lauteste und wichtigste Kritik an jeder Opferungslogik dar:

„Ich habe Wohlgefallen an Barmherzigkeit und nicht am Opfer“.

Was bleibt?
Dass es keine menschliche Erfahrung gibt und keinen Bereich des Lebens, die gottfern wären. Mehr noch: vielleicht kann man Anselm -wenn man ihn vom juristischen Denken befreit- doch etwas abgewinnen. "Sünde" ist nicht einfach irgendeine Übertretung, sondern meint existenzielle Gottferne.
Wie ist diese Gottferne zu überwinden? Seitens der Menschen wird das schwierig. Der Karfreitag aber meint: GOTT SELBST überwindet die Entfremdung, und zwar, indem er sich genau in diesen Abgrund selber begibt. Seit Karfreitag dürfen wir uns des Pauluswortes gewiss sein:

"Denn ich bin gewiß, daß weder Tod noch Leben, weder Engel noch Fürstentum noch Gewalt, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Hohes noch Tiefes noch keine andere Kreatur mag uns scheiden von der Liebe Gottes, die in Christo Jesu ist, unserm HERRN." (Röm 8,38-39)
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Bruno Amatruda

Freitag, 22. März 2013

MEMENTO - Der Opfer gedenken






In der Passionszeit gedenkt man der Leiden Christi. Da wurde einer unschuldig gepeinigt, gedemütigt und schliesslich am Kreuz zu Tode gequält.
Dabei geht es in der "Fastenzeit", wie man sie im Katholizismus nennt, nicht um irgendeine fromme Übung, um vor Gott besonders gut da zu stehen. 
Das „Fasten“ -in welcher Form auch immer- soll die Sinne schärfen. Unwesentliches darf für einmal zur Seite geschoben werden und dem Gedenken Platz machen. Christi Leiden zu gedenken, das heisst auch, aller unschuldigen Opfer zu gedenken. Der Sinn, den die Passions- oder Fastenzeit schärft, ist das genaue Hinschauen.

Dass man einen Sinn für die Opfer hat, ist nämlich alles andere als selbstverständlich.

Im Gegenteil ist notorisch damit zu rechnen, dass Opfer eben NICHT ernstgenommen,  nicht wahrgenommen werden.

Man mag es unserem Unwissen und unserer menschlichen Schwäche zurechnen, dass wir Opfer oft übersehen.
Ungeheuerlich ist hingegen, was passiert, wenn Opfer sich zu Wort melden. Wenn sie sich selber Gehör verschaffen.
Dann löst das bisweilen aggressive Reaktionen hervor.

Einer vergewaltigten Frau wird halt doch eine gewisse Mitschuld angekreidet. Auf den Malediven wird ein 15jähriges Opfer zu 100 Peitschenhieben verurteilt (hier gehts zur Petition). 
Ein amerikanischer Pfarrer  –mit sexuellen Übergriffen an seiner ehemaligen Hochschule konfrontiert- kehrt das Blatt um und beschuldigt die Nestbeschmutzer. Ein deutscher Historiker gibt bei Markus Lanz unwidersprochene "Weisheiten" zum Besten, wie die, dass  Juden auch irgendwie ein wenig Täter waren und die Nazis irgendwo auch Opfer. 
Man mag dieses Vorgehen eines mit Vorwürfen konfrontierten Täters als Verteidigungsstrategie auslegen. Überspitzt gesagt: Das Opfer ist für ihn die leib- und personhafte Anschauung seiner Schuld, die er abwehren muss. ("Die Deutschen werden den Juden Auschwitz nie verzeihen", meinte Zvi Rex einmal.)  

Doch wie kommt es, dass sich Entführungsopfer Natascha Kampusch in ihrer Heimat dem Hass völlig unbeteiligter Personen ausgesetzt sieht?

Hier spielen psychologische Mechnismen eine Rolle. Das Leiden wird verdrängt. Manchmal auch das eigene Leiden - aus reinem Überlebenstrieb. Wenn dann das Verdrängte sich umso gewaltiger wieder bemerkbar macht, muss es abgewehrt werden. Lässt sich so die Abwehrhaltung gegenüber fremden Leid und die Verdrängung von Opfererfahrungen erklären?

Vielleicht. Die Passionszeit (Passion = Leiden) lädt dazu ein, eben NICHT zu verdrängen. Auch eigenes Leiden nicht. Vielleicht liegt dort der Schlüssel zur Empathie mit den Opfern. Wer eigene Opfererfahrungen nicht mehr abwehren muss, wird sensibel für das Leiden anderer. 
Dieser Prozess ist kein einfacher. Billiger ist neue Lebendigkeit aber nicht zu haben. 

Die Leidenszeit und der Karfreitag sind die Voraussetzungen für Ostern. Der Weg zur Auferstehung für zuerst in die Niederungen des Leids. Aber auch: der Weg durch die Niederungen –darauf dürfen wir getrost hoffen- führt zu neuem Leben.

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Bruno Amatruda unterrichtet Religion an einem Schweizer Gymnasium






Dienstag, 19. Februar 2013

Der arme Fotograf und die bösen Freikirchler

Es wäre ja gelacht, wenn man ausgerechnet die NZZ darüber aufklären müsste, was es mit Persönlichkeitsrechten auf sich hat. Oder etwa doch nicht?


Man stelle sich vor: Ein evangelikaler Fotograf will einen Bildband über einen Schwulenclub veröffentlichen. Im Zuge dessen klagen einige der Abgebildeten mit Rekurs auf das „Recht am eigenen Bild“. Die Veröffentlichung des Bands wird provisorisch gestoppt. Der Fotograf versteht die Welt nicht mehr. Es gehe ihm überhaupt nicht darum, die Individuen an den Pranger zu stellen. Es gehe um darum, das System hinter dieser Lebensweise auszuleuchten. Und so weiter und so fort. Wie würde wohl eine Zeitung hierzulande über einen solchen Fall berichten? Wäre mit Schlagzeilen wie „Zensurversuche von Schwulen“ zu rechnen? Hoffentlich nicht. Denn ob es Schwule, Evangelikale oder Kaninchenzüchter sind, die auf das Recht am eigenen Bild klagen, ist in einem solchen Fall nebensächlich – sollte man meinen. Liest man aber den Artikel „Zensurversuche von Freikirchlern“ (NZZ vom 13.2.2013), kommen einem Zweifel.


Geht es nämlich um Angehörige einer Freikirche, geht es plötzlich nicht um die Inanspruchnahme von Persönlichkeitsrechten, sondern um „Zensur“ bzw. „Zensurversuche“. Aber dieser tendenziöse Begriff ist hier fehl am Platz. Zensurieren weckt Assoziationen an totalitäre Regimes, die den freien Informationsaustausch einschränken, und es wäre für Religionsverächter natürlich nur allzu schön, wenn die zum  Freikirche ICF gegen die Veröffentlichung unliebsamen Bildmaterials klagen würde. Nur leider leider scheint der Fall so nicht zu liegen. Es ist nicht der ICF, sondern es sind verschiedene Individuen, die ihr Recht am eigenen Bild einklagen. Insofern hätte sich die Autorin auch den Verweis auf das „ausgeklügelte visuelle Marketing“ der Freikirche sparen können. Darum geht es in dieser Sache nicht. Es geht einzig und allein darum, ob ein Individuum das Recht hatte, Bilder von anderen Individuen in Buchform zu veröffentlichen. Aber das klingt natürlich etwas weniger spektakulär als ein Konflikt eines mutigen Künstlers, der von einer mächtigen Institution daran gehindert werden soll, entlarvende Bilder zu veröffentlichen. Wer mächtig und wer ohnmächtig ist, ist aber in diesem Fall nicht so klar. Das Recht am eigenen Bild schützt gerade das potentiell machtlose und in einer Mediengesellschaft höchst fragile Individuum. Ein solches Recht ist keine Trivialität. Gerade der NZZ, der selbsternannten Hüterin liberaler Werte, würde es gut anstehen, das ihren Mitarbeitern mitzugeben, denn der unbedingte Vorrang des Individuums vor irgendwelchen Kollektiven gehört zu den Kerngedanken des politischen Liberalismus. Die Menschen, die hier klagen, nehmen ihre subjektiven Rechte in Anspruch. Dass sie Mitglieder einer Freikirche sind, ist für das Problem, um das es geht, schlechterdings irrelevant. Vor allem aber: Es gibt keinerlei ersichtlichen Grund, hier von „Zensur“ zu reden. Es mutet ähnlich absurd an, wie wenn ein Paparazzi, der Schnappschüsse eines Promis als Buch veröffentlichen will, „Zensur, Zensur!“ schreien würde. Oder wie wenn eine Medizinerin sich darüber beklagen würde, dass sie sensible Patientendaten nicht ohne deren Einwilligung veröffentlichen darf. Zensur?


Vielleicht lohnt sich in diesem Zusammenhang auch der Hinweise, dass es völlig irrelevant ist, ob die Bilder „objektiv gesehen“ in irgendeiner Weise besonders heikel, peinlich oder entwürdigend sind; und auch, ob die Begründung, warum ich nicht abgebildet werden soll, in irgendeiner Weise nachvollziehbar ist, ist schlicht irrelevant, und dass ich auf Facebook Bilder von mir in Badehose poste, gibt anderen ebenfalls noch nicht das Recht, nun ohne meine Einwilligung einen Fotoband mit Schnappschüssen von mir in Badehose zu veröffentlichen. Leider scheint auch der besagte Fotograf diesbezüglich falsch informiert zu sein. Leute hätten sich durch seine Bilder „plötzlich anders gesehen, als sie gesehen werden wollten“, gibt er weiter zu Protokoll. Ja, und genau das gibt ihnen das Recht, gegen die Veröffentlichung vorzugehen, möchte man anfügen. Statt dem Künstler an den Lippen zu hängen und ihm doch beträchtlichen Raum für sein (subjektiv völlig verständliches) Wehklagen zu geben, hätte die Journalistin besser einmal kritisch nachgefragt, warum er denn die Bilder den Abgebildeten vor dem Druck nicht vorgelegt und das Recht zur Veröffentlichung nicht explizit eingeholt habe.


Es ist verständlich, dass die Sympathien in dieser Angelegenheit der Autorin einseitig verteilt sind. Aber doch fragt sich, ob es nicht Aufgabe einer kritischen und unabhängigen Journalistin eines internationalen Traditionsblatts wäre, den Sachverhalt ausgewogener darzustellen. Oder ist objektive und faire Berichterstattung, wenn es um Religion geht, hier und heute bereits zu viel verlangt? Hat das Tagi-Niveau in Sachen Religions-Bashing, wöchentlich vorexerziert durch Hugo Stamm und Konsorten, nun bereits die Falkenstrasse erreicht? Religionskritik, insbesondere Kritik an tendenziell totalitären Formen von Religion, mag ein nobles, gerade auch liberales Anliegen sein. Auch journalistische Kritik am ICF – sei es etwa in einem Kommentar, sei es durch eine Reportage – ist völlig legitim und meines Erachtens auch sachlich gefordert. Nur ist der geschilderte Konflikt, wenn ich recht sehe, kein geeigneter Aufhänger für solche Kritik, ja diese kippt selber in einen Ausdruck mangelnden Respekts vor den Rechten Anderer.


Wenn fundamentale Persönlichkeitsrechte – und dazu zählt in einer Mediengesellschaft gerade das Recht am eigenen Bild – zur Nebensache erklärt werden, sobald sie die Rechte von unliebsamen Menschen sind, so gibt das zu denken. Aber wenn’s darum geht, auf böse Religiöse zu hauen – selbstverständlich im festen Glauben, auf der Seite der „Guten“ gegen Intoleranz und Konservatismus zu kämpfen –, scheint auch hierzulande je länger je mehr fast jedes journalistische Mittel recht zu sein.


Und noch ein Letztes: Nach der Lektüre dieses Artikels fragt man sich, ob es nicht vielleicht eine weise Entscheidung dieser Leute war, gegen die Veröffentlichung der Bilder Einspruch zu erheben. Denn ist jene Einstellung gegenüber religiösen Gemeinschaften, wie sie die Autorin in diesem Artikel vor Augen führt, gesellschaftlich auf dem Vormarsch, so fragt es sich, ob etwa ein Jugendlicher auf Lehrstellensuche nicht gut daran tut, sich nicht als ICF-Besucher zu outen. Immerhin scheint das kein besonders gutes Licht auf seine Persönlichkeit zu werfen, wenn jemand ein „Freikirchler“ ist.





Hier der Link zum Text in der NZZ:
http://www.nzz.ch/aktuell/startseite/zensurversuche-von-freikirchlern-1.17998392


Freitag, 15. Februar 2013

Der Weg, die Klarheit und das Label








Samuel Jakob regt in der Reformierten Presse theologische Stellungnahmen der Kirchenleitung (in Zusammenarbeit mit den theologischen Fakultäten) an.

Er fragt sich, warum etwa die Reformierten zur Satisfaktionslehre der Evangelischen Allianz SEA schweigen. 
Nun, das scheint mir auf der Hand zu liegen:
Weil die Landeskirche es sich nicht mit den Evangelikalen verscherzen will. Nichts fürchtet man so sehr, wie Kirchenaustritte. Daher gilt die Devise suum cuique; jedem das Seine. Wenn in der Stadt  schamanische Rituale abgehalten werden können, dann sollen die auf dem Land kaschierte Wiedertaufen durchführen dürfen. Und wenn die eine Gemeinde die pfingstlerische Theologie des Alphalivekurses importieren darf, darf die andere Tiere segnen und politischen Aktivisten Asyl gewähren. Die Verantwortung liegt ja bei der einzelnen Gemeinde, und die Kirchenleitung ist fein raus. Ein Profil, eine Positionierung, ein einheitliches Image, eine Marke, ein Label ist allerdings das letzte, was dabei heraus kommt.

Die von Jakob diagnostizierte inhaltlich Krise der Kirchen  hat auch strukturelle Ursachen. Natürlich, im Pfarramt bleibt vor lauter Administrationsarbeit kaum noch Zeit für theologische Debatten. Vor allem aber: Solange die Finanzen den courant normal erlauben, besteht keine Notwendigkeit, sich mit inhaltlichen Fragen auseinander zu setzen. Jedes Pfarramt kann seinem Alltagsgeschäft nachgehen, und zu tun gibt es ja mehr als genug. 
Vielleicht wird die Finanznot es notwendig machen, sich klarer zu positionieren. 
In Basel-Stadt wurde aus diesem Grund das Territorialprinzip aufgegeben und die Bildung von theologisch ausdifferenzierten (Gesinnungs-)Gemeinden gefördert.

In den USA laufen solche Profilierungsprozesse seit längerem. So haben sich liberal-soziale Kirchen eine 8-Punkte-Charta gegeben unter dem Label "Progressive Christianity". Sie bekennen sich zum Inklusivismus als Antwort auf exklusivistische konservative  und evangelikale Gemeinden.

Unter dem Dach der Landeskirche soll hierzulande alles Platz haben. Das ist ein Entscheid, den man gutheissen kann. In der Praxis bestehen zwar immer schon gemeindetypische oder je nach Pfarrperson divergierende theologische Schwerpunkte (siehe oben). Nur transparent ist das für den Kirchenfernen nicht. 
Wieso aber kann ich als Gläubiger, ja als "Kunde" diese Position nicht an einem Label erkennen? 

Die Angst vor dem Label erfasst ja bereits manche Pfarrperson. Ich habe schon mit evangelikalen Pfarrern gesprochen, die das Wort "evangelikal" zornig von sich wiesen. Und mit liberalen, die sich nicht als "liberal" schubladisieren lassen wollten. Der beste war ein Kollege, der seiner Spiritualität -weil wortlos- partout keine Bezeichnung angedeihen lassen wollte. Mehr als "etwas mit Kerzen" war ihm nicht zu entlocken.

Wenn also schon die Theologen Mühe haben, Farbe zu bekennen (warum bloss?), wie können wir erwarten, dass jemals ein "gemeinsames" Bekenntnis zustande kommt?
Bekennen heisst immer auch, sich abgrenzen. Dabei geht es nicht darum, das eine gegen das andere auszuspielen. Sondern um Profilbildung und Transparenz. Ich bin erzliberal und habe gute Freunde in der FEG. Zum Predigen laden sie mich natürlich nicht ein, aber Freunde bleiben wir trotzdem; und just, dass wir Gemeinsamkeiten und Unterschiede benennen, ja sogar augenzwinkernd "labeln" können, macht das Ganze verständlicher. 

Samuel Jakobs Vorschläge regen Debatten an und sind höchst bedenkenswert. Mit der theologischen Klärung beginnt jeder am besten bei sich selbst.
Auf dem Weg sind wir alle. Hoffentlich mit Klarheit. Und warum nicht: mit Label.

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Bruno Amatruda ist Religionslehrer an einer Zürcher Kantonsschule