Donnerstag, 5. November 2015

Quantum Jesus – (Teil 2): Zwischen Märchen und göttlichem Eingriff





Bevor wir uns den quantenphysikalischen Phänomenen und ihren theologischen Implikationen  zuwenden, gehen wir einen Schritt zurück.

Wer heute die Bibel liest oder eine Predigt hört, kommt nicht umhin, sich zum Gehörten und/oder Gelesenen zu positionieren. Dies geschieht zwischen den zwei Extremen „Was in der Bibel steht, ist wahr und wörtlich zu verstehen“ und „Die Bibel ist ein Märchenbuch mit erfundenen Geschichten zwecks Machtausübung über die Gläubigen“.

Auf dieser Skala finden sich viele Zwischenstufen, Einstellungen wie

        -    die Bibel wurde den Autoren von Gott wörtlich eingegeben, deshalb ist sie irrtumslos
-       die Bibel wurde von Menschen geschrieben (daher enthält sie auch Fehler), welche ihre Erfahrungen mit Gott beschrieben (daher enthält sie auch Wahrheit)
-       die Bibel ist ein Gemisch aus Erfahrung und ihrer religiöse Interpretation, deshalb muss man sie in ihrer Entstehungszeit verstehen, um sie für heute zu interpretieren
-       die Bibel enthält zeitlose Wahrheiten, die in Symbolen ausgedrückt werden. Die Symbole wirken in der Tiefe der menschlichen Seele. Eine wörtliche Interpretation würde dem nicht gerecht.



Den unterschiedlichen Einstellungen zur Bibel entsprechen verschiedene theologische Lager oder Schulen.

Im FUNDAMENTALISMUS müsste man eigentlich alles wörtlich nehmen. Die Welt entsteht in 6 Tagen à 24 Std. zum Beispiel.  Doch sogar Fundamentalisten können unmöglich alles wörtlich nehmen.

Die EVANGELIKALE und die konservative Theologie kennt die Devise: „Gotteswort in Menschenwort“, d.h. sie macht INNERHALB der Bibel bereits eine Differenz aus zwischen Göttlichem und Menschlichem. Nicht alles ist wörtlich zu verstehen, und es ist die Aufgabe der Exegeten auszulegen, was jetzt wie gilt.

Die HISTORISCH-KRITISCHE Auslegungsmethode fragt nach der Entstehung der Texte. Nach den historischen Umständen, nach religionsgeschichtlichen Parallelen und kulturellen Bedingungen. Indem wir dies alles verstehen, verstehen wir besser, was der Text DAMALS sagen wollte. Der Transfer in die Gegenwart hingegen kann diese Methode nicht an sich leisten.

Das Problem bleibt also bestehen: wie kann ein Text von DAMALS auch HEUTE noch irgend etwas bedeuten oder bewirken?
Psychologische, existenzielle/existenzialistische Ausleger würden sagen: die Bilder, die verwendet werden (z.B. die Geschichten vom verlorenen Sohn, von der auferweckten Tochter etc.), sind so stark, dass sie auch heutige Menschen ansprechen.  Daher ist es UNERHEBLICH, ob diese Geschichten irgendwelchen Fakten entsprechen oder „erfunden“ sind. Selbst dann nämlich, wären sie nicht erfunden, sondern „gefunden“ im reichen Fundus unserer seelischen Kräfte, unseres kollektiven Unterbewusstseins.
Diese letzte Position (vertreten etwa durch Tillich, Bultmann, Drewermann) wird natürlich von Fundamentalisten heftig kritisiert. Aber ebenso können wissenschaftliche Skeptiker damit wohl wenig anfangen. Zumindest würden sie sagen: schön und gut, dann bestehen die Evangelien halt aus „frommen Lügen“, die gut gemeint sind. Letztlich aber bleiben sie erfunden Geschichten, die sich so nie zugetragen haben.



Wie immer wir uns also zur Bibel, zum Glauben etc. positionieren, es bleibt problematisch. Und das ist auch gut so, denn das Problematische macht es ja erst spannend.

Sind also die Wunder- und Heilungsgeschichten der Bibel wörtliche Widergaben von Ereignissen oder frei erfundene Stories?

Der Zugriff auf die Wissenschaft scheint IM ERSTEN MOMENT alle biblischen Berichte dem Reich der Märchen und Legenden zuzuweisen. Bei GENAUEREM HINSEHEN tut sich überraschend aber eine DRITTE PERSPEKTIVE auf.


Es gibt z.B. Heilungsgeschichten, die DAMALS als Wunderheilungen verstanden wurden und die wir heute mit dem uns zur Verfügung stehendem Wissen aus Psychologie, Psychosomatik und Systemischen Theorien sehr wohl erklären können. Viele Geschichten von Krankenheilungen könnten sich also sowohl als wörtlich/faktisch "wahr" wie auch als wissenschaftlich haltbar herausstellen. Dabei wäre allerdings NICHTS ÜBERNATÜRLICHES geschehen. Übrigens berichten auch die Evangelium davon, dass Jesus manchmal NICHT HEILEN konnte. Ebenso, dass Jesus oft den Geheilten sagte: "Dein Glaube (=Vertrauen) hat dir geholfen". 

Ein dritte Perspektive also versucht plausible Erklärungen für die biblischen Berichte zu finden. Manchmal gelingt das, manchmal auch nicht. Oder NOCH nicht. Oder aber die Geschichte wird tatsächlich als wissenschaftlich/faktisch unhaltbar ersichtlich (zum Beispiel die Geschichte vom Weinwunder, das bezeichnenderweise nur in einem der vier Evangelien, bei Johannes, erzählt wird). 
Dann wird man historisch-kritisch entschlüsseln wollen, was der Autor mit einer solchen Erzählung bezweckte.








Dienstag, 3. November 2015

Quantum Jesus (neue Serie)


 
Theologen sollten sich unbedingt mit Quantenphysik beschäftigen
(Teil 1)



Wie viele Pfarrerinnen und Pfarrer kennen sich mit dem Nullpunkt-Feld, dem Phänomen der Verschränkung von Elementarteilchen oder dem nichtlokalen Informationsaustausch aus?

Was die Erforschung der kleinsten Einheiten der Materie und der physikalischen Wirkkräfte seit 100 Jahren zutage gefördert hat, ist derart revolutionär, dass die Grundlagen unseres modernen Weltbildes (ja, auch des traditionellen wissenschaftlichen Weltbildes) neu durchdacht werden müssen.  Die Theologie sollte sich hier nicht zurück halten.

Die Naturgesetze, die wir in der Alltagswelt als gegeben hinnehmen, werden im subatomaren  Raum plötzlich ausser Kraft gesetzt. Manche Wissenschaftler gehen mittlerweile davon aus, dass es Materie als solche gar nicht gibt, bzw. nicht so, wie wir sie uns vorstellen, nämlich als kleine feste Einheiten (z.B. Atome), die sich dann zu immer grösseren Einheiten formieren. Je weiter man in den Kern der Teilchen vordringt, desto mehr zeigt sich, dass es Energieschwingungen gibt (die wir als materiell wahrnehmen) und sehr viel Leere dazwischen. Die Grundlage der Materie ist selbst nicht materiell.  Wenn das keine wissenschaftliche Sensation für einen Theologen ist!

Nun ist das Gespräch zwischen Quantenphysik und Religion alles andere als neu. Nicht nur, dass bereits die Pioniere der Quantenphysik sich angesichts der erstaunlichen Beobachtungen mit Begriffen wie Geist, Nichts, Gott beschäftigten. Gewisse Forscher nahmen später den Dialog mit Religionsvertretern und spirituellen Führern tatsächlich auf. Nur, dass es sich bezeichnenderweise vor allem um Vertreter fernöstlicher Religionen handelte.

Die christliche Theologie hinkte hier einmal mehr der Zeit hinterher. Zum einen, weil sie sich selten nach den neuesten Trends gerichtet hat; und wenn, dann mit grosser Verspätung. Zum andern aber, weil sie immer noch grossmehrheitlich dogmatisch denkt:
Phänomene, die nicht ins gewohnte Schema passen, werden auf ihre Kompatibilität mit der „biblischen Lehre“ oder  dem „christlichen Weltbild“ hin geprüft und entsprechend kritisch behandelt. Die kritische Auseinandersetzung ist selbstverständlich das A und O jeder Wissenschaft. Nur hat die Theologie oft Mühe, neue und fachfremde Erkenntnisse auch in ihr Lehrgebäude zu integrieren. Solches gelingt eher einzelnen Exponenten, die damit ungewollt polarisierend wirken.

Pfarrerinnen und Pfarrer sollten sich unbedingt mit Quantenphysik beschäftigen. Sie, die Predigerinnen und Prediger, suchen ja immer nach anschlussfähiger christlichen Rede. 
Paulus benutzte die Rhetorik und die Sinnbilder seiner Zeit; Johannes die Sprache der Gnostiker. Bultmann erschloss den Existenzialismus für das Christentum; die Befreiuungstheologen die marxistische Analyse und Tillich und Drewermann die (Psycho-)Analyse der Seele. Jeder auf seine Art verwendete eine Sprache, die auch Kirchenferne und Skeptiker überzeugte. Sie malten die befreiende Botschaft, dass jedes Leben bedingungslos geliebt ist, mit Bildern, die die Menschen ihrer Zeit nachvollziehen konnten.


Diese Serie wird sich nun mit den Bildern beschäftigen, welche die Quantenphysik für uns bereit hält.


Weiterführende Literatur:

Einführungen ins Thema
Don MacGregor: Wissenschaft und Transzendenz: Zwei Sichtweisen - eine Welt 

Hans-Rudolf Stadelmann: Im Herzen der Materie. Glaube im Zeitalter der Naturwissenschaften
Ulrich Warnke: Quantenphilosophie und Spiritualität - Der Schlüssel zu den Geheimnissen des menschlichen Seins 

Anselm Grün / Michael Grün: Zwei Seiten einer Medaille. Gott und die Quantenphysik

Google-Begriffe / Wikipedia-Artikel:
Hans-Peter Dürr
David Bohm
Werner Heisenberg
Niels Bohr





Donnerstag, 29. Oktober 2015

Minderheiten gesucht (zwecks Wohltätigkeitskonzert)


Solidaritätskundgebungen werden immer rarer.

 

Ein Gastbeitrag von Håkon Krähenbühl



Jahrelang gab ich mit meiner Band  Wohltätigkeitskonzerte. Man verdient nichts dabei. Aber fühlt sich so gut, so... solidarisch. Und man gewinnt Hunderte neuer Zuschauer. Dankbare Zuschauer, denn sie schätzen nicht nur die Musik, sondern auch den guten Zweck. „GGG“ nennen wir das: Gutes-Gewissen-Groove. Unser Bassist kam beim weiblichen Publikum - er nennt sie Ökogroupies - ganz speziell gut an. Wenn Sie wissen, was ich meine.







Zwischen 1999 und 2006 spielten wir u.a. an Anlässen wie

Rock gegen Hass in Jestetten 1999

Jazz against Racism 2006

Solidarité pour les Sans-Papiers, Genf

Dein Los - Obdachlos (Grosse Brücke Bern)

Concert for Ökobauern - Teppichzentrum Sihltal

Musik gegen Arbeitslosigkeit - von arbeitslosen Musikern (Schaffhausen 98)

Increase Genderstudies  - Universität Kabul 2005

„No needles – no Problems“ Open-Air Platzspitz  2002

Aus dieser Zeit könnte ich viele Anekdoten erzählen, klar. Zum Beispiel als unser Bassist nach dem Konzert zugunsten des Methadonprogramms einem Süchtigen 20g Haschisch verkaufte.
Oder als sich herausstellte, dass es sich bei den Obdachlosen und den Sans-Papiers um die selben Personen handelte. Am Konzert für die Obdachlosen erschienen übrigens keine Obdachlosen, was die Organisatoren so erklärten, dass diese lieber „zuhause“ bleiben würden.
Ich könnte viel erzählen: vom Interview, das ein Randständiger auf Tele Bern gab, wo er sagte: „Ich habe es so satt, ständig von eingebildeten Musikern als Minderheit funktionalisiert zu werden, an der sie ihr Ego narzisstisch aufblähen können!!“
Oder als beim „Rock gegen Hass“-Festival sich zwei verfeindete Bands in der Garderobe prügelten. Oder vom „Niemand ist illegal“-Konzert in Wetzikon, welches die Polizei abbrach, weil das Konzert illegal war. Und noch heute lachen wir über unseren Bassisten (immer er!), der die ganze Kollekte  für die Bergbauern (Fr. 27.50) an der Bar wieder ausgab.


Seit   neun Jahren spielen wir keine Wohltätigkeitsgigs mehr. Niemand organisert nämlich welche. Das hat damit zu tun, dass es in der Schweiz immer mehr Minderheiten gibt, die jeweils immer weniger Leute umfassen. Auf Anfrage meinte ein auf Wohltätigkeit spezialisierter Konzertveranstalter, er würde nur Charity-Konzerte für Minderheiten auf die Beine stellen, die mehr als 50 Angehörige haben. In der Schweiz lohne sich das nicht.


Immer kleinere Minderheiten (hier die Minderheit der Kinder ohne iPhone)


Wir haben schon versucht, auf deutschen Festivals aufzutreten. Doch bei „ Setze ein Zeichen gegen Fremdenfeindlichkeit“ blitzten wir als Schweizer ab. „Tut in eurem eigenen Land etwas dagegen!“, hiess es.  Wir wollen nun etwas zugunsten der Flüchtlinge in der Schweiz tun und haben den oben erwähnten Konzertveranstalter nochmals kontaktiert. Es seien zur Zeit noch zu wenige Flüchtlinge hier, meinte er, aber für 2016 sehe es eventuell besser aus.


Freitag, 25. September 2015

AC/DC und der Vatikan oder: Wer auf Reformen hofft, ist selber schuld! ----------- Eine Glosse.



Was haben AC/DC, Status Quo und die Katholische Kirche gemeinsam?  Sie sind seit Jahren mit dem Ewiggleichen erfolgreich.


Seit dem Amtsantritt des gegenwärtigen Papstes wollen Kommentatoren und Kaffeesatzleser aus Sätzen und Gesten des Pontifex eine Tendenz zur Erneuerung erkennen. Sogar Protestanten bekunden immer wieder ihre Hoffnungen auf Reformen in der Schwesterkirche. Vergebliche Liebesmüh:
Sollten sich die Katholiken reformieren (Zölibat, Frauenordination etc.), wären sie ja Reformierte.

Die Kirchen mögen ihr Selbstverständnis auf Gott, Jesus und die Apostel gründen ("Ekklesiologie" im Fachjargon), in der Welt funktionieren sie nunmal aber nach weltlichen Massstäben, d.h. wie Betriebe, Institutionen und Vereine. Manchmal sogar wie Rockbands.



Status Quo: 3 Akkorde in 40 Jahren



Status Quo (der Name ist Programm) spielen seit über 40 Jahren bekennenderweise dieselben Lieder mit denselben 3 Akkorden. Selbstironisch wie Briten nunmal sind, nannten sie eins ihrer Alben "In Search of the Fourth Chord" - auf der Suche nach dem vierten Akkord. Ihr Publikum würde aber einen solchen vierten Akkord nicht ertragen (erst recht nicht, würde es sich um einen jazzigen dim7#11 handeln), genau so wenig darf Angus Young, der sechzigjährige AC/DC-Gitarrist seine Schuluniform gegen ein altersgemässeres Kleidungsstück eintauschen. Der Erfolg dieser Bands liegt im Wiederholen der bekannten Gesänge, Posen und Rituale begründet. - Genau dasselbe gilt für die katholische Liturgie, die von Polen bis Venezuela zu allen Zeiten dieselbe sein soll.

60jähriges Nachwuchstalent A. Young


Erfolgreiche Bands sind sofort erkennbar aufgrund der Merkmale, die sie einzigartig machen. Im Marketing nennt man das USP.

Auch auf dem "Supermarkt der Religionen" (vgl. F.W. Graf "Götter Global") bedarf es der unique selling propositions, der USP, zu Deutsch: Alleinstellungsmerkmale. Sie machen eine Religion sichtbar und definieren deren Abgrenzungen.

Die USP der Katholiken: das sind die, die nicht heiraten dürfen und gegen Verhütung sind!
Die USP der Orthodoxen: das sind die, die mit ihrem Staat verbandelt sind.
Die USP der Freikirchen: das sind die, für die man sich entscheiden muss.
(Innerhalb der Freikirchen sticht der ICF aufgrund einer extrem profilierten USP heraus: das sind die, welche die Amerikanisierung der Religion auf die Spitze treiben).
Sogar die Zeugen Jehovas haben eine markante USP: das sind die, die Samstag morgens vor der Tür stehen und sich im Weltuntergangsdatum notorisch verrechnen.

Welche unique selling proposition hat die Reformierte Kirche anzubieten?
Früher hiess es: das sind die, die nicht katholisch sind. Heute reicht den Reformierten ein negativ formuliertes Alleinstellungsmerkmal nicht. Zumal man ja ökumenisch offen sein will. Allein, USPs leben auch von Abgrenzungen und damit tun sich die Reformierte seit längerem schwer. Ökumene muss der USP nicht an sich abträglich sein, ganz im Gegenteil: Taizé lebt davon, dass es ein ökumenisches...oder reformiertes?...oder kommt-es-überhaupt-drauf-an?-Kloster ist.

Aber die reformierte USP, was könnte das sein?


Für weiterführende Gedanken dankbar wäre
B. Amatruda

Dienstag, 18. August 2015

Verfahren am Hals - Diskurs und Verrechtlichung

Früher waren es die Kirchen, welche über die Moral ihrer Schäfchen wachten.
Zum Glück ist in unseren Breitengraden der klerikale Einfluss weitgehend zurück gedrängt worden: Der liberale Staat wird von mündigen Bürgern gebildet und bringt mündige Bürger hervor - zumindest in der Theorie. Dieser freie Bürger bedient sich rationaler Argumente, um seine Ideen oder gar Interessen zu vertreten und begibt sich mit den anderen Bürgern in einen öffentlichen Diskurs, in welchem der "zwanglose Zwang des besseren Argumentes" (Habermas) die Oberhand behält.
Anders gesagt; wir dürfen über alles reden und debattieren. Die besten Argumente werden sich kraft ihrer Überzeugungskraft durchsetzen. Das gelingt nicht immer, sogar eher selten. Aber es gilt als das liberale Ideal.

Nun ist aber seit einiger Zeit etwas dem total Gegenläufiges zu beobachten: das Blockieren von Argumenten und die Tabuisierung von Diskursen durch Rechtsandrohungen.

Der Sozialphilosoph Habermas beklagte vor Jahren, dass die Lebenswelt, welche von Haus auf sozial und dialogisch grundiert sei, durch das Subsystem Wirtschaft kolonialisiert werde. Die Monetarisierung der Lebenswelt (alles wird in erster Linie nach finanziellen Kriterien bewertet) stelle eine der "Sozialpathologien" unserer Gesellschaft dar, so Habermas. Wird nun das Subsystem "Recht" eine ähnliche gesellschaftliche Vorrangstellung einnehmen, sprich: werden gesellschaftliche Diskurse künftig einer Verrechtlichung anheim fallen?

Ich meine damit nicht einen "Meinungsterror", eine mediale Einseitigkeit, wie sie etwa Thilo Sarrazin beklagt. Dass Medien nicht objektiv berichten, ist eine Binsenwahrheit. Es GIBT KEINE OBJEKTIVITÄT (nicht einmal in der Naturwissenschaft, wie Feldforschung oder Quantenphysik längst bewiesen haben), wieso sollten ausgerechnet Medien frei von Präferenzen und ideologischen Voraussetzungen sein, die ihren Standpunkt bestimmen? Und wieso soll es keinen Meinungsmainstream geben, wo es doch in allem einen Mainstream und Neben- und Gegen- und Unterstränge gibt (Kunst, Wissenschaft, Ideen, Formen des sozialen Umgangs etc.)?
Sarrazin wurde -obwohl er nichts als Zahlen und Fakten präsentiert und auf seine Weise interpretiert hatte- zwar diffamiert, also moralisch an den Pranger gestellt. Aber da stand nur Meinung gegen Meinung. Er hatte jederzeit die Möglichkeit, seine strittigen Thesen öffentlich zu verteidigen. So wie es sich in einer liberalen Gesellschaft und Demokratie gehört.

Nein, ich meine den nächsten Schritt: Das Gerichtsverfahren.

In den USA und in Irland erlangte die Homo-Ehe politische Anerkennung. Wer sich nun dagegen ausspricht, wie die saarländische Ministerpräsidentin Kramp-Karrenbauer, riskiert nun, angezeigt zu werden. Der Vorwurf: Volksverhetzung.
(vgl:
http://www.welt.de/politik/deutschland/article141950881/Kramp-Karrenbauer-wegen-Volksverhetzung-angezeigt.html )

Dass der Churer Bischof Huonder in seinem Plädoyer gegen Homosexualität nun alttestamentliche Stellen zitiert, ist Pink Cross eine gerichtliche Anklage wert (http://www.pinkcross.ch/news/2015/pink-cross-haelt-an-strafanzeige-gegen-bischof-huonder-fest ). 


Eine der liberalen Errungenschaften ist die freie Meinungsäusserung. Kramp-Kartenbauer darf sagen, was sie will. Ruft sie zu Mord und Totschlag auf? Nein. Sie äussert Bedenken. Wie steht es nun mit der freien Meinungsäusserung? Und Bischof Huonder zitiert die Bibel. Natürlich auf eine völlig unstatthafte Weise. Das soll, ja, das MUSS diskutiert werden, kontrovers und hart in der Sache. Aber soll das Recht hier bemüht werden, so als hätte sich der Bischof einer Gesetzesübertretung schuldig gemacht? (Im übrigen: von Huonder eine homo-freundliche Einstellung zu erwarten, wäre etwa so, als würde man Keith Richards zu einer Anti-Raucher-anti-Drogen-Kampagne drängen).

Das Problem, das ich im Ganzen sehe ist: Durch Recht soll ein Diskurs begrenzt oder gar verunmöglicht werden. Mutet man dem mündigen Bürger keine Debatten mehr zu? Wie mündig ist der Bürger, wenn er divergierende Meinungen per Dekret, d.h. durch den Staat unterdrücken muss? Benimmt er sich nicht eher wie das Kind, das den Kontrahenten bei Eltern oder Lehrern verpfeifft?

Frührer übernahm die "Mutter Kirche" die elterliche Funktion. Der mündige Bürger hat aber offenbar da und dort noch Mühe, erwachsen zu werden und sucht sich -diesmal in der Gestalt der Gerichte - eine neue Vaterfigur.

Einer liberalen Demokratie ist solch infantiles Gebahren nicht würdig.


B. Amatruda

Donnerstag, 4. Juni 2015

Adoption als Instrumentalisierung?



In der "Kritik der praktischen Vernunft" gibt Immanuel Kant das anthropologische Statement par excellence ab, das besagt, der Mensch dürfe als Ganzes nur Zweck, niemals Mittel sein. Heute sagen wir, ein Mensch darf nie verzweckt und instrumentalisiert werden. Auch nicht für ein höheres Ziel, eine hehre Idee usw.

In der neulich aufgekommenen Diskussion um die Rechte gleichgeschlechtlicher Paare steht am Rande auch das Adoptionsrecht zur Debatte. Ein Argument seitens der Befürworter einer breiteren Adoptionspraxis lautet, ein Kind brauche Liebe und Zuwendung und es sei unerheblich, ob ihm diese von Vater und Mutter oder zwei Vätern oder zwei Müttern zuteil kommen.
Gewiss sagt das Geschlecht nichts aus über die Art der Zuwendung, die ein Kind bekommt. Doch im Licht der kantschen Maxime stellt sich die Frage der Instrumentalisierung. Wenn ein Paar - notabene gleich welchen Geschlechts! - auf natürlichem Wege keine Kinder bekommt und nun eines adoptiert, haben wir es hier nicht mit einer Verzweckung zu tun? Ein Kind muss her, um den Kinderwunsch des Paares zu erfüllen.

Auf den ersten Blick scheint die Adoption ja eine win-win-Situation darzustellen; ein Kind, das - aus welchen Gründen auch immer - nicht bei den leiblichen Eltern aufwachsen kann, bekommt ein neues Zuhause und ein kinderloses Paar kommt so zu einem Kind. (Egoistische und altruistische Motive hielten sich so die Waage). Die Tatsache aber, dass im Normalfall die Erwachsenen das Kind aussuchen und nicht umgekehrt, zeigt die Schieflage dieses vermeintlichen Tauschgeschäftes auf. Wirklich altruistisch wäre nur die Adoption eines Kindes durch ein Paar, das bereits eigene Kinder hat - denn ihnen könnte man nicht unterstellen, ein Kind aus rein egoistischen Gründen aufzunehmen.

Ich behaupte nicht, Adoption sei an sich ein Übel. Doch wir müssen uns der Ambivalenzen klar sein, welche ihr in ethischer Hinsicht innewohnt. Am nächsten liegt mir in dieser Frage eine naturalistische Sichtweise, bzw. eine Orientierung an den natürlichen Verhältnissen: Adoption verwaister Kinder möglichst durch Verwandte oder Nahestende (statt Adoptionstourismus à la Madonna oder Angelina Jolie). Kinderlosigkeit als Los der Natur annehmen. Die Reproduktionsmedizin kann zwar hier tatsächlich "der Natur nachhelfen" und darf somit auch in Anspruch genommen werden. Letztlich gilt es aber, die eigene Natur anzunehmen. Und an dieser Stelle spitzt sich die Problematik bei gleichgeschlechtlichen Paaren zu: ein homosexuelles Paar kann sich nicht natürlich fortpflanzen, weshalb es hier keine Natur gibt, der man "nachhelfen" könnte.

Mir ist bewusst, wie heikel eine solche Aussage ist, sie könnte leicht als diskriminierend aufgefasst werden. Der Kinderwunsch mag für alle legitim sein. Aber er legitimiert m.E. nicht automatisch adoptionsrechtliche oder reproduktionstechnische Massnahmen. Und zwar nicht, weil jemand aufgrund seiner Geschlechtlichkeit einer Adoption nicht würdig wäre, sondern weil ich mich des Eindrucks nicht erwehren kann, man instrumentalisiere Menschen, Kinder um zu kompensieren, was die Natur nicht hergibt.

Mir ist auch bewusst, dass ich hier einen klassischen (klassischer geht's nicht mehr) sogenannten "naturalistischen Fehlschluss" vorlege. Weil etwas (z.B. von Natur aus) so ist, heisst das nicht, dass es auch so sein soll. Tatsachen an sich haben noch keinen ethisch-normativen Anspruch.
 Allein, ich weiss mir bei dieser Frage noch nicht  besser zu helfen, als mit dem Votum, das eigene So-Sein, die eigene Natur anzunehmen (betreffe sie Kinderlosigkeit, die sexuelle Orientierung, das Alter etc.) und damit auch die natürlich gegebenen Grenzen und Konsequenzen.

Da ich aber noch zu keinem abschliessenden Urteil in dieser Frage gelangt bin, würde ich mich auf Eure Argumente und eine weitergehende Diskussion freuen!

B. Amatruda



Mittwoch, 4. März 2015

Four and a Half Shades of Reformiert



Ich schaue durch die reformierte Brille und sehe viereinhalb Schattierungen von Reformierten.



Das "reformierte Profil"

1) Die Liberalen. Sie sind die grösste Gruppierung. Wenn es ein "reformiertes Profil" gibt, dann dieses: Graumelierte Haare, fliehende Stirn, prominente Nase, Bart (m) oder dezenter Schmuck (w). Das sind Individualisten, die mit beiden Füssen auf dem Boden stehen, naturwissenschaftlich denken und das Reformiertsein als Haltung leben. Sie tragen Verantwortung und Brille. Die Würde und die Freiheit des Einzelnen ist ihr höchster Wert, womit sie mit Adolf von Harnack völlig einig gehen, auch wenn sie noch nie von ihm gehört haben. Sie gehen manchmal in die Kirche. Sehr oft auch nicht.
Ihr Lieblingswort ist "Freiheit".



2) Die Sozialen. Christentum ist für sie gleichbedeutend mit Nächstenliebe. Sie engagieren sich deshalb für Kleinbauern in Burkina Faso, kaufen nur Bio-Produkte und wählen links oder Mitte-links. Oder EVP. Oft gründen sie einen Claro-Laden, der dann davon lebt, dass sie selber darin einkaufen (Käufer und Verkäufer sind je nach Wochentag identisch). Von allen Gruppierungen sind sie die ökumenisch Offensten. Den Werbeslogan "Selber denken - die Reformierten" empfinden sie als Affront gegenüber den katholischen Mitbrüdern, den koptischen Mitschwestern und dem hinduistischen Taxifahrer Rivalpamdar. Dieser Gruppierung verdanken die Reformierten ihren guten Ruf als helfende Stütze der Gesellschaft.
Ihr Lieblingswort ist "Solidarität".



3) Die "Bibeltreuen". Sie sträuben sich gegen Etikettierungen wie "evangelikal" oder "fromm", sind dabei evangelikal und fromm. Bibeltreu heisst: sie lesen die Bibel wörtlich, bzw. wehren sich gegen wissenschaftliche Interpretationen. Gebet, Gemeinschaft  und Evangelisierung sind ihnen wichtig. Deshalb entwickeln sie zuweilen eine ungeheure Dynamik und gewinnen viele Freiwillige. Antworten sind ihnen wichtiger als Fragen. Denn egal, wie die Frage lautet - die Antwort ist immer entweder "Jesus" oder "Evangelium".
Ihr Lieblingswort ist "Jesus".

4) Die Spirituellen und Sucher.
Diese Gruppierung wächst seit 20, 25 Jahren kontinuierlich: Sie entdecken uralte Frömmigkeitsstile wieder. Dogmatismus ist out, es geht um spirituelles Erleben. Sie führen Meditation und Kontemplation in die Gemeindearbeit ein, befassen sich mit Achtsamkeit und Anselm Grün und scheuen nicht die Nähe zu Zen-Buddhismus und klösterlichen Kommunitäten. Sie sind die reformierte Avantgarde und haben das grösste Wachstums- und Entfaltungspotenzial. Nach aussen, weil sie am ehesten auf den spirituellen Hunger unserer durchrationalisierten Gesellschaft eingehen können. Nach innen, weil "der Christ der Zukunft ein Mystiker sein wird. Oder gar nichts." (Karl Rahner).  Ihre Lieblingsworte sind "Spiritualität" und "Stille".








4 1/2)  Viereinhalb ist eine Untergruppe von Vier. Während Gruppe 4 offen genug ist für Einflüsse aus anderen Konfessionen, ist Viereinhalb geradezu davon besessen. Sie hegen eine Faszination für Liturgie, für katholische Inszenierung und griechisch-orthodoxe Bilder. Sie posten Ferienphotos vom Athos, kaufen Brokat aus Einsiedeln und denken laut über die Einführung des Bischofsamtes und einheitlicher Gottesdienstordnungen nach. Kerzen und Gewänder sind wichtig, die Talare weiss, manchmal tragen sie sogar ein Collar. Aussenstehende wissen nicht, ob es sich um Reformierte oder Katholiken handelt. Aber man sieht ihnen die "Geistlichkeit" an, das ist die Hauptsache. Gewisse Pfarrer sind ganz speziell:  Jeder kann nachvollziehen, dass sie über Moses predigen. Aber müssen sie auch wie Moses aussehen?
Ihr Lieblingsbegriff ist "Geistliche Autorität".


Man könnte nun einwenden, es gebe noch viel mehr Schattierungen, vielleicht sogar 50:  Die Intellektuellen, die Traditionellen, die Humorlosen, die Witzbolde usw.  Die gibt es alle auch, aber sie kommen überall vor, sind also schwer zuzuordnen. Ausser bei den Witzbolden. Die sind häufig als reformierte Blogger anzutreffen oder zwischen den Nesseln, in die sie sich gerne setzen.

Bruno Amatruda







Mittwoch, 25. Februar 2015

Reformation: 500 Jahre sind genug! --- Eine Glosse


 

 

Genug ist genug! Ein halbes Jahrtausend.
Was hat denn die Reformation in der Zeit erreicht?

Klar, sie hat das Gewissen des Einzelnen über die kirchlichen Institutionen gestellt: zwischen Mensch und Gott vermittelt kein Priester und keine Kirche. Aber nun dankt es ihr das Kirchenvolk, indem es von seiner Freiheit auch Gebrauch macht, Nähe oder Distanz zur Kirche selbst bestimmt - sogar, ob es ohne Kirche glücklich wird, sprich: aus der Kirche austritt (denn zwischen Mensch und Gott vermittelt  keine Kirche - auch keine reformierte).


Ok, sie hat das eigenständige Bibellesen gefördert und damit nicht nur die Alphabetisierung und die Demokratisierung der Bildung voran getrieben, sondern auch die Freiheit der Interpretation.
Das Resultat waren zahllose Abspaltungen, Gruppen und Sekten.

Sie hat die Würde des Einzelnen zum Zentrum erklärt (Adolf v. Harnack). Das führte zur  Freiheit des Individuums. Und diese wiederum zum ach so schlimmen Individualismus.

Sie hat die Bibel zum alleinigen Massstab erhoben. Doch das präzise Studium der Bibel mündete zwangsläufig in die historisch-kritische Methode. Diese müssen angehende Pfarrer erlernen, im Gemeindeleben ist sie aber nur in homöopathischen Dosen zu verabreichen. (Zu Risiken und Nebenwirkungen fragen Sie Ihren Exegeten).

Sie hat das "Priestertum aller Gläubigen" ausgerufen, die Unterscheidung zwischen Laien und "Geistlichen" aufgehoben und sogar Frauen zum Pfarramt zugelassen - also Folge davon ist eine "Feminisierung der Kirche" (SEK-Präsident Locher) zu befürchten.

In 500 Jahren hat  die Reformation ganze Arbeit geleistet und ist nun daran, sich selber abzuschaffen.
Das "Salz der Erde" hat die Gesellschaft durchdrungen, gewürzt und verfeinert und sich dabei scheinbar aufgelöst. Ein für Salzkristalle üblicher Vorgang. Religionssoziologen sprechen von der "Unlesbarkeit" der Reformierten. Vielleicht hat das aber mit den Soziologen zu tun: Statt Salz zu lesen, sollte man es schmecken.

Sei's drum. Das alles schmerzt das Kirchenvolk nicht im mindesten. Im Gegenteil. Wenn der Arzt gut war, ist man wieder gesund und braucht ihn im Moment nicht mehr. Aber es schmerzt den Arzt, dem die Arbeit ausgeht. (Dabei zeigte die Kirchensteuerinitiative, dass das Volk froh um den Arzt ist).

So ist es vor allem das professionelle Personal, das über die eigene Effizienz erschrickt und am liebsten vieles (wenn nicht alles) rückgängig machen möchte:

Ist es ein Zufall, dass parallel zu den Vorbereitungen auf das 500 Jahr-Jubiläum  die Einführung des reformierten Bischofsamtes diskutiert wird?
Dass gewisse Synodale die Befreiung vom Apostolikum (im 19. Jhdt.) beklagen? Dass der Ruf nach agendarischen Gottesdienstordnungen und einheitlichen Liturgien laut wird?
Dass eine Vergeistlichung des Pfarramts postuliert wird (vgl. H. Pachmanns und P. B. Rothens Schriften zum Pfarramt) und jemand sogar die Beichte für Protestanten wieder ins Gespräch bringt (P. Zimmerling, zum Glück in Deutschland)?


Die Reformation hatte sich von Beginn weg an zwei Fronten abzuarbeiten: der katholischen und der täuferischen. Ein 500jähriger Verschleisskampf macht müde. Das erklärt für mich die Rekatholisierungstendenzen und die immer grösseren Konzessionen an die selbst ernannten Nachfolger der Täufer, die sich "bibeltreu" nennen. Nirgends fand ich beides schöner vereint, als in einer Passage aus dem Buch "Gottfried Locher. Der 'reformierte Bischof' auf dem Prüfstand". Der oberste Repräsentant der Reformierten erklärt darin biblische Wunder mit dem Durchbrechen von Naturgesetzen und hält die Jungfrauengeburt für ein ebensolches Wunder.

Vor vielen Jahren fragte mich meine italienische (katholische) Cousine: "Du bist Protestant? Das sind doch die, die nicht an die Jungfrau glauben?".  Tja, liebe Cousine, das war früher.
Die Reformation darf sich jetzt zur Ruhe setzen. 500 Jahre sind genug.



Bruno Amatruda

Mittwoch, 18. Februar 2015

Allen, die in den Schweizer Medien vergeblich auf Reaktionen auf das Charlie-Massaker gewartet hatten, die etwas tiefer gehen als "Je suis Charlie"-Bekenntnisse und das Gerede von "westlichen Werten", empfehle ich diese kurzen Texte hier, u.a. von Charles Taylor:

http://blogs.ssrc.org/tif/2015/02/17/values-and-violence-thoughts-on-charlie-hebdo/

Dienstag, 3. Februar 2015

Emotionale Dissonanzen im Angesicht der Verhüllung

oder warum wir auf Burkas so heftig reagieren - warum wir NICHT nicht hinschauen können - warum wir uns deshalb "schuldig" fühlen sollen - warum das Gesicht kommunikative, emotionale und philosophische Aspekte offenbart  - warum ein verhülltes Gesicht genau zu dem wird, was es vermeiden will.








(Hinweis: Dieser lange Text kann auch diagonal gelesen werden: Einfach nur die fett gedruckten Abschnitte lesen.)

 


Kein anderes Kleidungsstück hat in letzter Zeit für so viel Gesprächsstoff gesorgt wie die Burka, beziehungsweise der Niqab. Im Zuge mehrerer Ge-ichtsentscheide im In- und Ausland wird die Frage diskutiert, wie die religiös motivierte Verhüllung des Gesichts in europäischen Gesellschaften zu handhaben sei.

Bisher wurde m.E. die Problematik um Gesichtsverschleierung und Verhül-lungsverbot vorwiegend anhand von kulturellen, religiösen, menschen-rechtlichen, feministischen, integrations- oder sogar sicherheitspolitischen Kategorien abgehandelt. Dabei sieht man sich mit dem Paradox konfron-tiert, dass die liberale Gesellschaft die Freiheit um der Freiheit Willen in Form von etwaigen Kleiderverordnungen zu beschränken sich gedrängt fühlen könnte.

Die Lausanner Rechtsprofessorin Suzette Sandoz etwa fällt im Artikel "Die Verschleierung des Gesichts bedeutet Misstrauen" das Urteil: "Ein offenes Antlitz gehört zum Selbstverständnis der westlichen Gesellschaft" (NZZ am Sonntag 4.7.2010), womit sie gewissermassen implizit den Gesichts-schleier als Feind der Popperschen „offenen Gesellschaft“ identifiziert. Und sich dennoch nicht zu einem expliziten Verbot durchringen kann.

Die z.T. disparaten Voten von Gegnern und Befürwortern eines Verbots zeugt vom tiefen Unbehagen, welches ein kleiner Stück Stoff auslöst und welches ideell vermeintlich geeinte Lager spaltet. So kann von feministischer Seite das Plädoyer für weibliche Selbstbestimmung sowohl als das Recht auf das freiwillige Tragen eines Gesichtsschleiers interpretiert werden wie auch als Verbot eines textil gewordenen Unterdrückungs-symbols. Liberale können das Burkaverbot als Grenzziehung und als Schutz westlich-freiheitlicher (in Frankreich: laizistischer) Werte begründ-en, während andere Liberale jede Reglementierung der Kleiderordnung als Eingriff in die individuellen Freiheitsrechte betrachten und somit die Liberalität der freien Gesellschaft in Gefahr sehen.

Nicht nur wird die Diskussion bisweilen hoch emotional geführt. Es ist auch die Rede von Unbehagen, von Verunsicherung gewisser Teile der Bevölkerung, gar von Ängsten. Mithin also von Gefühlen, denen ich - ganz unbesehen der nötigen religiösen, rechtlichen und politischen Aspekte- nachgehen will. 

"Fühlen heisst, in etwas involviert zu sein." So lautet das Diktum von Agnes Heller.  

Das Etwas, welches uns involviert, ist in diesem Falle ein Mensch, genauer: eine Frau, die ein Niqab trägt. Sagen wir, wir gehen die Bahnhofstrasse entlang und uns kommt die Niqabträgerin entgegen. Der ungewohnte Aufzug ruft in uns eine emotionale Reaktion hervor, wir werden "reaktiv" involviert, wie Heller sagen würde, und zwar positiv oder negativ, vielleicht beides zugleich. Was empfinden wir? Neugier, Mitleid, Verständnislosigkeit, Befremdung, Abscheu, Feindseligkeit, Wut? Sicher ist, wir fühlen nicht nichts, wir werden in etwas involviert. Und wenn wir nicht selber einer salafistischen Minderheit angehören, fühlen wir mit grösster Wahrscheinlichkeit keine Freude. Negative Gefühle prädominieren. Gleichzeitig werden wir uns bewusst, dass wir negative Gefühle hegen, was uns wiederum missfällt, schliesslich wollen wir uns nicht einmal vor dem forum internum unseres Gewissens in die Nähe fremdenfeindlicher Gedanken begeben. Das emotionale Amalgam lässt sich auf die Schnelle nicht analysieren, schon ist die unübliche Erscheinung auf der Bahnhofstrasse an uns vorbeigehuscht. 

Hier bereits, in einer wenngleich hierzulande nicht eben alltäglichen, aber doch möglichen Alltagsszene, zeigt sich die ganze Fülle an Ambivalenzen und Paradoxien, welche unsere Gefühlswelt bestimmen und all den rationalen Argumenten um Kultur, Politik etc. nicht nur vorgeordnet sind, sondern -so meine These - das Unbehagen, welches sich in der Verworrenheit des Diskurses zeigt, erst hervorbringt.
     
Gewiss hat Magda Arnold recht, wenn sie Wertüberzeugungen als konstitutiv für die Emotionsbindung ausweist (vgl. Reisenzein et al.,S.55). Die Bewertung des Phänomens (verhüllte Frau) löst je nach Konnotation den Annäherungs- oder Vermeidungsmodus aus.  Man könnte das gesellschaftliche Argument heranziehen, wonach wir uns einen solchen Anblick einfach nicht gewohnt seien. Schliesslich werden nicht nur Kleiderordnungen, sondern auch Gefühle sozial reguliert. Doch selbst, wenn ich weiss, dass das Tragen des Niqab einen kulturell-religiösen Code darstellt, löst das die emotionale Uneindeutigkeit nicht auf. In diesem Falle geht das Fühlen dem Denken voraus. Mehr noch; werden wir uns unserer negativen Gefühle bewusst, zwingt uns dies zu einer Selbst-reflexion, die „Intentionalität richtet sich diesmal an uns selbst, wir selbst werden zum Objekt unseres Selbst“ (Heller, S. 40).

Nun ist Selbstreflexion gewiss eine gute Sache. Doch dass sie uns von aussen, sprich: von der verhüllten Frau gleichsam aufgenötigt wird, mag als intrusiv empfunden werden, ebenso wie die uns zugemuteten Paradoxien: Wir wissen, dass der Niqab nach dem Selbstverständnis der Trägerin diese vor fremden (männlichen) Blicken schützen soll. Gleichzeitig stellen wir fest, dass die Niqabträgerin sämtliche (gaffenden oder verstohlenen) Blicke auf sich zieht. Und mich selbst fühle ich ertappt wie ein Kind, das etwas gesehen hat, was es nicht sehen sollte. Der Niqab ist so Verhüllung und Exponierung zugleich. Vor allem aber trägt er die paradoxe Botschaft: Involviere dich nicht! Diesem Befehl, einem „double bind“, kann man unmöglich nachkommen. Wir müssen ihn bestenfalls als Aufforderung von der Art „Lass mich in Ruhe!“ verstehen – und zwar noch bevor wir in irgendeine Art von Kontakt getreten sind. Das Apriorische der Aufforderung unterstellt seinerseits, dass wir der Frau im Niqab in irgend einer Weise zu nahe treten wollen. Es entbehrt nicht der Ironie, dass der Kontakt durch das Kontaktverbot tatsächlich überhaupt erst hergestellt wird, wenngleich im Arnoldschen Modus der Meidung.

Unsere aversiven Impluse sind also nicht dem Fremden geschuldet, oder gar einem latenten Rassismus, sondern dem paradoxen Appell. 

Das Kleidungsstück ist der sozialen Interaktion nicht nur hinderlich, sondern dient geradezu dem Ausschluss.  Ist das „Involviert sein ... nichts anderes als die regulierende Funktion des sozialen Organismus (des Subjekts, des Ichs) in seiner Beziehung zur Welt“ (Heller, S. 38), so wird  der oft hergestellte Zusammenhang zwischen Niqab, bzw. Burka und der gesellschaftlichen Integration verständlich. Die Gesichtsverschleierung markiert einerseits die von der Trägerin gezogene Grenze unseres Involviertseins, andererseits signalisiert sie die (tatsächliche oder nur von uns imaginierte) Einschränkung des Involviertseins der Verschleierten in ihrer Beziehung zur Welt, was einer zumindest partiellen Selbstabschottung gleichkommt.

Nun liesse sich einwenden, dass die Niqabträgerin uns mitnichten auf kommunikativen Abstand halten will und, würden wir sie ansprechen, uns jederzeit Antwort geben, sprich: mit uns kommunizieren würde.
Das mag durchaus der Fall sein. Die Emotionen gehen meines Erachtens bei dieser Debatte vor allem deshalb hoch, weil die Frau ihr Gesicht verhüllt.
Käme uns keine Frau im Niqab, sondern ein buddhistischer Mönch in seiner Kutte entgegen oder sogar eine als Muslima erkennbare Kopftuchträgerin, wir hätten weniger Mühe, die Erscheinung einzuordnen. Doch das verhüllte Angesicht als emotional ausstrahlendes Signal führt zu den oben beschriebenen Irritationen.

Das Gesicht nämlich ist ein Kommunikationsmedium, vielleicht sogar das Medium schlechthin, wenn es um den Ausdruck von Gefühlen geht. 


„Eine Hermeneutik des Gesichts versteht die Zeichen zu deuten, die Gesichtszüge kulturell und individuell zu interpretieren...“ (Schmid, S.252) und die darin zum Ausdruck kommenden Gefühle, das heisst aber auch: das Involviertsein des Anderen mit der Welt, mithin mit uns.
Es ist die individuelle und die soziale Person, die sich uns in ihrem unverhüllten Gesicht zeigt. „Körperlich wie seelisch handelt es sich um den Teil des Selbst, der anderen nackt angeboten wird“ (Schmid, S. 253). Mit dem Antlitz verhüllt die Niqabträgerin nicht nur einen Körperteil unter anderen, sondern gleichsam ihr Selbst, ihre Individualität. Ein verhülltes Antlitz lässt uns nicht teilhaben am Gefühlsausdruck seines Trägers, an möglichen Gedanken über uns. Zudem schafft die Tatsache, dass die Niqabträgerin verhüllt ist, ich aber nicht, ein Ungleichgewicht. Die Verschleierte sieht, ohne gesehen zu werden, was ihr möglicherweise einen Machtzuwachs beschwert, da sie mich in eine kognitiv inferiore Lage versetzt. 

Schlimmer noch: der Anblick der Verschleierten überführt mich eines Vergehens, das sich nicht vermeiden lässt. Das Verbot „Schau mich nicht an!“ kann ich nur im Modus der Verbotsübertretung wahrnehmen. 

Ich kann mich nur schuldig machen. Uns gängige Interaktionspostulate, die wir mit Begriffen wie „auf Augenhöhe kommunizieren“, „face-to-face Situation“ etc.  umschreiben,  werden obsolet.
Dies hat nicht nur kommunikative, sondern auch ethische Implikationen, „denn alle Ethik im Umgang mit anderen bleibt abstrakt, wenn deren Gesicht nicht sichtbar ist“ (Schmid, S.252). Wilhelm Schmid verweist auf Emmanuel Lévinas’ Konzept des Antlitzes. Dabei schreibt Lévinas dem Gesicht eine Sprache vor dem Sprechen zu, eine präverbale Kommunikation, die weit über ihre entwicklungspsychologische Komponente hinaus von ontologischer und ethischer Tragweite ist. Im Gesicht erscheint der andere Mensch als wesentlich Anderer, mithin also als transzendent. Das Gesicht des Anderen spricht nicht nur zu mir, sondern ruft mich auch in die Verantwortung. Die Reziprozität dieses Verhältnisses umschreibt Lévinas mit dem Begriff des „Sein-des-einen-für-den-anderen“ (Lévinas, S. 114). Lévinas hat seine ganze Ethik auf dem Antlitz aufgebaut: Das artikulierte Sprechen des anderen ist lediglich Informationsvermittlung, ja Unterweisung. „Die gesprochene Sprache...ist wesentlich belehrend“ (Lévinas, S. 41).  Im Antlitz spricht hingegen eine Sprache vor dem gesprochenen Wort, die reine Bedeutung ist, nämlich meine Bedeutung für den Anderen. Ich teile nicht etwas mit, sondern ich teile mich selber mit. Ontologisch gesprochen: mein Sein ist nicht Substanz, sondern Relation.
Das Antlitz des Anderen entzieht sich meiner Intentionalität. Lévinas weist ihn als den Ort der Exteriorität aus. Im Umkehrschluss könnte man behaupten: Verbirgt jemand nun sein Antlitz vor mir, fällt er meinem intentionalen Zugriff anheim. In psychologischer Diktion: Die Niqabträgerin wird so genau zu dem, was sie vermeiden will, nämlich zu meiner Projektionsfläche


Die Niqabträgerin wird so genau zu dem, was sie vermeiden will, nämlich zu meiner Projektionsfläche.


Da sie mir das Antlitz entzieht, habe ich darin keinen Anhalt für ihre möglichen Gefühle oder Absichten. Hingegen kann die Verhüllung Anlass zu allerlei Spekulationen geben, die ihren Niederschlag in den von manchen Politikern geäusserten sicherheitspolitischen Bedenken finden. Mit der Verhüllung des Gegenübers wird gleichsam die kommunikative und soziale Situation unlesbar und somit potenziell gefährlich. Ob diese Hermeneutik des Verdachts nur kulturell anerzogen oder auch biologisch bestimmt ist, wäre im Einzelnen noch zu unter-suchen, denn die „Auswahl dessen, was für uns in der Wahrnehmung von Bedeutung ist, geschieht ... auch aufgrund angeborener – biologischer – Verhaltensmuster (Patterns)“, (Heller, S. 27). Verdachtsmomente, Spekulationen und Projektionen sind ihrerseits sowohl gefühlsgeleitet als auch gefühlsbestimmend. Dass ihre emotionale Konnotation in unserem Falle mehrheitlich negativ ausfallen dürfte, hängt m.E. mit den kognitiven, kommunikativen und emotionalen Widersprüchen zusammen, welche die Verschleierung des menschlichen Gesichts auslösen.

 Zusammenfassend in Thesen:


- Nicht die fremdartige Kleidung, nicht die durch diese zur Schau getragene kulturelle Andersartigkeit oder das Bekenntnis zu einer bestimmten Religion lösen Unbehagen aus, nicht einmal, dass irgend ein Körperteil bedeckt wird, sondern die Tatsache, dass dieser Körperteil das Gesicht ist.

- Der Anblick einer gesichtsverhüllten Frau löst emotionale Dissonanzen  aus, weil er uns in kommunikative Paradoxien verwickelt.

- Die Verhüllung des Gesichts hat nicht nur die Nichtlesbarkeit des Gegenübers zur Folge sondern auch die Nichtlesbarkeit der sozialen Situation, welche als potenziell gefährlich eingestuft wird.

- Die hohe Emotionalität des Diskurses (Burkaverbot) entspringt nur scheinbar den divergierenden Auffassungen von Frauenrechten, Religionsfreiheit, Staatsaufgaben etc. Dem allen vorgeordnet ist die von aufgedrängten Paradoxien und Ambivalenzen bestimmte Gefühlslage, in welche wir vor dem Phänomen des verhüllten Antlitzes geraten.



Natürlich liesse sich hier in verschiedene Richtungen weiter bohren.
Die kulturelle Verfasstheit der Gefühle, auf die Agnes Heller hinweist, kann erklären, warum ein Kind, das in Afghanistan aufwächst, im Unterschied zu uns keinerlei Probleme mit der Verschleierung seiner weiblichen Familienmitglieder, bzw. mit dem Anblick von Burkas haben dürfte. Wäre es für uns im Westen also möglich, unsere Gefühlsregungen in dieser Sache zu modulieren und zu transformieren,  und wäre das überhaupt machbar, ja wünschenswert?

Zu diskutieren wäre etwa auch das Konzept des Antlitzes als ethischen Ankerpunkt. Bedeutet Verschleierung, sich aus der ethischen Gemeinschaft auszuklinken? Man wird wohl nicht annehmen können, dass die Gesichtsverschleierte ihren Status als ethisches Subjekt verliert. Wessen Grenze markiert der Niqab, jene der Frau, die mir als Mann damit Übergriffigkeit unterstellt? Oder jene ihres Ehemannes, der über einen Besitz zu wahren hat? Gibt es ein Recht auf Selbstausschluss Selbst wenn die Niqabträgerin sich aus freien Stücken (zumindest partiell) der sozialen Interaktion verweigert; kann ihr diese Verweigerung nicht auch zugestan-den werden, ohne sie gleich der Renitenz, der subversiven Gesinnung oder gar des sozialen Autismus zu bezichtigen? Gibt es einen Zwang zur Gemeinschaft? Wie viel Andersartigkeit kann oder will sich eine Gesellschaft leisten?
Diese weiterführenden Gedanken betreffen die philosophische, juristische oder politische Ebene. Ebenso die Frage, ob ein allfälliges Burkaverbot, dessen Diskussion zu Beginn dieser Ausführungen stand,  die erwähnten Dissonanzen auflösen würde, ja ob ein Verbot einem liberalen Staat überhaupt angemessen ist. Hier soll lediglich der Versuch unternommen werden, das Thema anhand einiger von Agnes Heller und Wilhelm Schmid (dieser im Anschluss an E. Lévinas) bereit gestellten Kategorien auf ihren kognitiv-emotionalen Gehalt hin zu beleuchten. Dieser bestimmt m.E. die gesellschaftspolitische Debatte um die Gesichtsverschleierung subkutan viel stärker, als das rationale Argumentarium vermuten lässt, zumal, wenn man sich eben dieser emotionalen und psychologischen Zusammenhänge nicht bewusst ist.

Bruno Amatruda 







Literatur:

Heller, Agnes, Theorie der Gefühle, Hamburg 1980

Lévinas, Emmanuel, Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität, Freiburg/München, 1987

Reisenzein et al., Einführung in die Emotionspsychologie, Band III, Kognitive Emotionstheorien, Kap. 2, Die Emotionstheorie von Arnold und Lazarus, Bern, 2003

Schmid, Wilhelm: Mit sich selbst befreundet sein. Von der Lebenskunst im Umgang mit sich selbst, Frankfurt a.M., 2004

Mittwoch, 14. Januar 2015

"Religiöse Gefühle". Anatomie eines Phantoms.


Seit dem Karikaturenstreit 2006, erst recht aber seit dem Attentat auf Charlie Hebdo geistert ein Begriff durch Artikel, Kommentare und Essays: das religiöse Gefühl. Darf Satire alles, wird gefragt, auch religiöse Gefühle verletzen? 






Was aber ist mit „religiösem Gefühl“ überhaupt gemeint? Der Begriff ist doppelt unscharf.
Zum einen, weil Religiosität definiert werden müsste. Zum andern aber, und das wiegt schwerer, weil „Gefühl“ –so sehr wir alltagssprachlich zu wissen meinen, was wir damit bezeichnen- sich als die sprachliche Simplifizierung hochkomplexer innerer Vorgänge erweist. Davon zeugt schon die Auffächerung innerhalb der Wortfamilie: Gefühl, Emotion, Empfindung, Gespür, Stimmung, Befindlichkeit etc.
Die Unschärfe des umgangssprachlichen Gefühlsbegriffes zeigt sich auch etwa darin, dass sich bei seelischen Belastungen ein Gefühlswirrwarr einstellt, das mit Hilfe eines Therapeuten erst entwirrt, d.h. in seine körperlichen, biographischen, sozialen Einzelteile zerlegt (Analyse = Zerlegung) werden muss, damit der Patient überhaupt versteht, was er fühlt.
Zum Gefühl gehören wesentlich Impulse, Gedanken und Bewertungen.
Im Englischen werden Begriffe wie emotion, feeling, sense ausdifferenziert und mit appraisal, cognition, sogar beliefs und concepts in Verbindung gebracht. Darauf soll hier nicht  im einzelnen eingegangen werden.  Wichtig scheint mir das Statement von Amelie Rorty: „Emotions do not form a natural class“ (1).  Es gibt keine natürlichen Gefühle. Gefühle zeichnen sich durch die Konvergenz von körperlichen Stimuli und deren biographischen, sozialen und kulturellen Interpretationen aus. Diese muss erlernt werden. Der Säugling weiss noch nicht, dass das Knurren im Magen nichts anderes als Hunger ist. In der Kommunikation mit der ihn spiegelnden Mutter lernt er seine „Gefühle“ überhaupt erst verstehen und auszudrücken und irgendwann zu regulieren.
Umgekehrt werden Gefühle auch sozial hervorgebracht.  So kann ein bestimmtes Verhalten von der einen Gruppe geächtet und sanktioniert werden und das Gefühl Scham oder Schuld hervorrufen, während dasselbe Verhalten in einer anderen Gesellschaft toleriert oder gar erwünscht wird.

Wenn also Gefühle keine naturgegebene Grösse sind, sondern nur immer sozial (mit)konstruiert,  wenn es also keine Gefühle-an-sich gibt, ist dann die Rede von religiösen Gefühlen nicht ebenso sinnlos wie die von sportlichen Emotionen oder musikalischen Gefühlen?

Es steht ausser Frage, dass Sport und Musik Gefühle auslösen, aber die Gefühle selbst können Begeisterung, Erhebung, Euphorie, Melancholie, Trauer sein. Man käme nicht auf die Idee, die von Musik und Sport ausgelösten Gefühle selbst als sportlich oder musikalisch zu bezeichnen, als würden Gefühle ertönen oder sich sportlich betätigen. (Mit Musikgefühl  ist allenfalls der musikalische Ausdruck oder der emotionale Ausdruck mit musikalischen Mitteln gemeint).

Kommen wir zu den sogenannten religiösen Gefühlen. In der Emotionspsychologie und –philosophie besteht Einigkeit darüber, dass Gefühle immer auch intentionalen Charakter haben. Sie richten sich auf etwas oder jemanden. Dem subjektiven Aspekt (ich fühle etwas, z.B. Wut) entspricht ein Objekt (Wut auf den Chef). Wäre demnach ein Gefühl, das sich auf einen religiösen Gegenstand (Gott, Heiliges Buch, usw.) richtet, ein religiöses Gefühl? Ich meine nicht. Das Gefühl, das intentional auf den religiösen Gegenstand gerichtet ist, mag Freude, Ehrfurcht, Andacht, Geborgenheit, Trost sein. Nur der Gegenstand ist religiös, das Gefühl selbst ist es eben so wenig, wie das von Musik ausgelöste Gefühl selbst musikalisch ist.

These 1: Es gibt keine „religiösen Gefühle“. Es gibt allerdings Gefühle, die sich auf einen religiösen Inhalt beziehen oder durch religiöse Lehrsätze und Praktiken befördert werden.

Hier liesse sich schliessen mit der plakativen Feststellung: Weil es keine religiösen Gefühle gibt, können sie auch nicht verletzt werden. Und weil sie nicht verletzt werden können, brauchen sie auch nicht vor Satire geschützt zu werden.

Doch das scheint mir zu billig. Tatsache ist, dass Religion –wie Musik, Sport und vieles mehr- Gefühle verursacht. Und dies nicht  zu knapp.

Ich will im folgenden zwei Arten von Gefühlen unterscheiden, die Religion auslösen kann.  Die eine Art ist gegen Verletzungen immun. Die andere hingegen ist anfällig.

Die ernsthafte religiöse Praxis kann beim Gläubigen mit Gefühlen verbunden sein wie Geborgenheit, Hoffnung, Halt, Freude, Euphorie. Mystische Übungen in allen Religionen führen zum ozeanischen Gefühl des Einsseins mit dem Kosmos, mit Gott oder wie immer dieses Unaussprechliche genannt wird.  Diese Art von Gefühl, so denn es echt ist,  kann durch nichts verletzt werden. Weder Karikaturen noch Beleidigungen können ihm etwas anhaben, da das Erlebte von ganz eigener Qualität ist, die von aussen nicht in Frage gestellt werden kann. Dieser  subjektiven Realität ist sich das Selbst vorbehaltlos gewiss.

These 2: Von Religion zutage geförderte Gefühle betreffen das subjektive Erleben und können von aussen weder gekränkt, verspottet noch verletzt werden.

Anders hingegen verhält es sich mit dem religiös mitverursachten Gefühl der Identität. Da Religion sowohl ein psychologisches wie auch ein soziales Phänomen ist, wirkt sie auf den Gläubigen identitätsstiftend. Die Selbstwahrnehmung und das Gefühl, ein kohärentes Selbst zu sein, weitet sich bei Gläubigen auf seine Religionszugehörigkeit aus. Werden Religionsangehörige pauschal verhöhnt oder beleidigt, wird das auch den einzelnen Gläubigen beleidigen. Im übrigen lässt sich dieser Umstand auf jede soziologische Gruppe übertragen: wer alle Italiener beleidigt, meint auch mich. Wer Banker pauschal als Halunken verurteilt, trifft auch den angständigen Bankangestellten.

Hier - und NUR hier! - sollte die Satire ihre Grenzen ziehen. Und -so weit ich sehe-  tut sie das auch. Denn die Identität eines Menschen gehört zu seiner Menschenwürde, die es zu schützen gilt. Deshalb erachten wir Witze über Homosexuelle, Juden, Frauen etc. als anstössig. Wer Witze macht über Muslime, WEIL sie Muslime sind (wahlweise: Atheisten, Behinderte, Dunkelhäutige oder Rothaarige), der ist weder witzig noch anständig.
Allein: die Zugehörigkeit zu einer Gruppe -selbst wenn es sich um eine religiöse Gruppe handelt- ist auch kein religiöses Gefühl. Wir schützen hiermit also keine "religiösen" Gefühle, sondern lediglich die Identität verschiedener Menschengruppen.

Nun könnte man einwenden, auch die Identität von Salafisten sei schützenswert und folglich müssten wir punkto Karikaturen ihrer Befindlichkeit Rechnung tragen.
Nein. Die europäischen Gesellschaften -geschichtsträchtig, wie sie sind- haben ein feines Gespür entwickelt für historisch gewachsenen Identität im Gegensatz zu neumodischen Identifikationen. Salafisten, meist junge Konvertiten, geben -zumal wenn sie Deutsche oder Schweizer sind- deshalb das Bild einer Maskerade ab, weil Identität (junge Europäer im 21. Jhdt.) und Identifizierung (alte Araber im 7. Jhdt.) in offensichtlicher Diskrepanz stehen. Wären die mutmasslichen Hintermänner und Geldgeber nicht undurchsichtig und folglich potenziell bedrohliche Figuren aus dem Mittleren/Nahen Osten, könnte man darüber lachen, wie vor wenigen Jahrzehnten über die orangefarbenen Hare Krischnas vom Zürichberg.

Die Identität ist also zu schützen; die Identifikation hingegen nicht. Will heissen: Schotten als geizig und Italiener als arbeitsscheu zu karikieren, ist anstössig, weil es identitäre Gefühle verletzt. "Haggis" (schottisches Darmgericht) zu verulken oder Mussolini zu verspotten, ist es nicht - egal wieviele Schotten oder Italiener sich damit identifizieren. Man kann nun dasselbe über die Religionen sagen. Vor allem aber, hinterfrage man den Begriff des "religiösen Gefühls".

Fassen wir zusammen:

1. "Religiöse" Gefühle sind ein Phantom. Es gibt keine "religiösen Gefühle".
2. Gefühle, die aus religiösen Überzeugungen oder Praktiken erwachsen, können im Grunde gar nicht "verletzt" werden.
3. Religiöse Identität gehört, wie die nationale, ethnische, sexuelle Identität zur Menschenwürde und ist zu schützen.
4. Nicht zu schützen hingegen ist alles, was nicht der Gläubige selber IST, sondern womit sich dieser lediglich identifiziert.


Bruno Amatruda





(1)Amelie Rorty, Explaining Emotions, University of California Press, 1980