Freitag, 23. Mai 2014

Rabbi Moischele und der Solipsist





Einst kam ein junger Mann ganz aufgewühlt zu Rabbi Moischele. "Rabbi, wie kann ich wissen, ob alles, was ich erlebe, real ist? Ich habe fürchterliche Angst, dass alles nur meiner Phantasie entspringt", klagte der junge Mann.

"Aha", meinte der Rabbi, "ein typischer Fall von Solipsismus." - "Solipsismus? Können Sie etwas dagegen tun?" fragte der junge Mann nervös. - "Das ist einfach, mein Junge", sprach der Rabbi, "wenn alles deiner Vorstellung entspringt, dann weisst du auch, was ich jetzt dagegen tun werde. Weisst du es aber nicht, dann bist du nicht in deiner Vorstellung, sondern in der Wirklichkeit."
Der junge Mann entgegnete besorgt: "Aber es könnte sein, dass ich mir nur vorstelle, dass ich nicht weiss, was Sie jetzt tun werden!"   Rabbi Moischele runzelte die Stirn und murmelte: "Dieser Solipsismus ist schon weit fortgeschritten. Das hilft nur eine Wurzelbehandlung." 

Er setzte den jungen Mann auf einen Stuhl, hiess ihn den Mund aufreissen, nahm eine Zange und zog ihm einen Backenzahn. Der junge Mann schrie vor Schmerz. "Denkst du immer noch, dass du dir alles nur einbildest?" Der junge Mann hielt sich die Wange und schüttelte den Kopf.

Die Schmerzen begleiteten den jungen Mann noch einige Tage und mit ihnen auch der erlösende Gedanke, dass seine solipsistischen Ängste nun widerlegt worden seien.


Zwei Wochen später erschien der junge Mann wieder beim Rabbi. "Ich hab dich schon erwartet, mein Junge", sprach Rabbi Moischele und hielt dabei eine Zange in der Hand. "Du fragst dich mittlerweile, ob dein letzter Besuch nur erdacht war und deine Schmerzen selbst erfunden. Ich ziehe dir heute einen zweiten Zahn."  -  "Nein! Ich will das nicht", entgegnete der junge Mann, "ich will nur endlich wissen, dass nicht alles nur ein Traum ist!" - "Wenn ich dir sämtliche Zähne gezogen habe, wirst du aus deinem Traum erwachen", sprach der Rabbi. Der junge Mann überlegte lange und meinte dann: "Das ist mir zu blöd", woraufhin er grusslos das Haus des Rabbis verliess.


Der junge Mann wurde später ein erfolgreicher Zahnarzt. Manchmal, wenn er einem Patienten einen Zahn zieht, denkt er an Rabbi Moischele. Er kann zwar bis heute nicht mit Bestimmtheit sagen, ob sich alles nur in seinem Kopf abspielt, aber es interessiert ihn mittlerweile auch nicht wirklich.


(aus: "Die erfundenen Geschichten des Rabbis Moischele")