Freitag, 5. Dezember 2014

Krieg, Dschihad, Rebellion als Selbstfindungsprojekte







Vor hundert Jahren meldeten sich junge Männer scharenweise als Kriegsfreiwillige. Was später als  Erster Weltkrieg in die Geschichte eingehen würde, diente im August 1914 Heerscharen von heranwachsenden Europäern als Projektionsfläche. Der Eintritt in ein romantisch vorgestelltes Soldatenleben war motiviert vom Ideal einer anderen, neuen, besseren Gesellschaft und begleitet vom Hunger nach Abenteuer und höherem Sinn, vom Traum der Teilhabe an der inneren kulturellen Reinigung durch Heldentum und Opferbereitschaft auf dem Schlachtfeld.







Natürlich trug die Propaganda zu dieser Grundstimmung das ihre bei. Doch sie konnte nur dort wirken, wo sie auf den uneingelösten Wunsch nach jugendlicher Selbstüberschreitung traf. Denn zu allen Zeiten gehörte es zur Jugend, sich selbst durch Grenzüberschreitung zu definieren, sprich: sich selbst zu finden.
Freilich schlug die Kriegsbegeisterung angesichts einer noch nie da gewesenen Brutalität sehr schnell in Schrecken und später in Hoffnungslosigkeit um. Die monströse Realität in den Schützengräben hatte jegliches Kriegspathos Lügen gestraft. (1)



Hundert Jahre später steht die Öffentlichkeit fassungslos vor dem Phänomen radikalisierter Muslime, die ihr europäisches Geburts- oder Gastland verlassen, um sich in Syrien und im Irak dem Islamischen Staat anzuschliessen.


Man hat dieser verstörenden Entwicklung mit wirtschaftlich-politischen und soziologischen Erklärungen beizukommen versucht. Mangelnde Integration oder schlechte Zukunfts-aussichten mögen für einen Teil der Neodschihadisten ausschlaggebend sein. Ich meine aber, dass entwicklungs- und identitätspsychologische Aspekte die wichtigere Rolle spielen. So dass sich das Wachstum der Salafistenszene in Europa (und die Kriegswilligkeit an ihrem extremen Rand) als Teil einer Jugendbewegung beschreiben lässt.


In den 100 Jahren zwischen dem Ersten Weltkrieg und heute haben wir verschiedene Revolten dieser Art erlebt: Den Aufschwung des Nationalsozialismus, die Hippies und die 68er-Bewegung, das Erstarken religiöser Fundamentalismen.
So unterschiedlich deren Inhalte (und deren Ausgang) auch waren, die gemeinsamen Strukturelemente lassen ein wiederkehrendes Muster erkennen.



1. Es handelt sich um Absetzbewegungen. 

Die Kultur der Väter, das Establishment, die Verweltlichung, die Moderne etc. werden radikal in Frage gestellt. Die Verwurzelung (radikal von radix, lat. für Wurzel) im Bestehenden wird aufgehoben.  Identität (zumal die im Jugendalter noch in Entwicklung sich befindende) bildet sich immer in Auseinandersetzung mit den anderen. Cliquen- und Gruppenbildungen erfolgen wesentlich auch durch Abgrenzungen nach aussen. Gegen andere Gruppen, gegen "die Gesellschaft" oder die Elterngeneration. (Bonhoeffer soll die Nazi-Bewegung sehr früh als Aufstand gegen die Vaterfigur erkannt haben).Es erstaunt nicht, dass jugendliche Salafisten ihren schockierten Eltern spirituelle Verweichlichung oder Anpassung an die westliche Lebensform vorwerfen. Ebenso wenig, dass sich auffällig viele junge Konvertiten unter den Sprachführern der Bewegung finden. Das Karnevaleske ihrer öffentlichen Auftritte (man denke an die vollverschleierte Nora Illi in verschiedenen Talk-Sendungen) sendet -ganz ungeachtet der weltanschaulichen Unterschiede- fürs bürgerliche Publikum ein ähnliches Signal aus wie damals die langen Haare der Rolling Stones.

 2. Vorbilder und Führungsfiguren

Jugendliche, zumal männliche, bilden Gruppen (soziologisch:"Peer-Groups", phänomenologisch: Männerbünde, Studentenverbindungen, Cliquen, Gangs etc.). Aber sie orientieren sich auch an Vorbildern. Diese sind selbst meist gar nicht mehr so jung (wiewohl sie sich jugendlich geben können). Jugendliche sind anfällig für Dämagogen und Rattenfänger aller Art, Führergestalten, Hassprediger und Ideologen, von Mao und Che Guevara (die man nicht wirklich verstand) bis zu religiösen Anführern. Einzig die Hippie-Bewegung kam ohne eigentliche Vorbildfigur aus;  Elvis, Beatles, Dylan wurden verehrt; als role models taugten sie nur bedingt. 


3. Das höhere Ziel

Für das "Kalifat" in den Dschihad ziehen, fürs Vaterland in den Weltkrieg. Was für Friedensverwöhnte als uneinschätzbares Risiko und Spiel mit dem Feuer erscheint, kann dem Jugendlichen "Sinn" verleihen oder vorgaukeln. 

Man wird - zwischen Selbststabilisierung und Grössenwahn oszillierend- Teil eines Grösseren, verfolgt ein höheres Ziel. Nicht immer muss dieses martialisch sein. "The Age of Aquarius" war ausgesprochen friedfertig. Aber etwas Missionarisches und Plakatives ("make love, not war!" / "Atomkraft, nein, Danke!") haftet all diesen  Idealen an. Sie machen nur Sinn als expansives Gemeinschaftserlebnis und das heisst: als Gesellschaftsutopie.  Die Vorstellungen einer besseren Welt sind derart idealisiert, dass sie bisweilen blind machen für bisherige Umsetzungsversuche (siehe etwa die z.T. unkritische Haltung vieler 68er dem Sowjetregime gegenüber).


4. Jugendliche Ungeduld.

Radikalität äussert sich als Ungeduld. Verständnislosigkeit gegenüber geschichtlicher Kontinuität und organischer Entwicklung führt zur "Alles! Hier und jetzt!"-Mentalität, welche sich hinter den kämpferischen Begriffen der Rebellion und Revolution nur schlecht kaschiert.  



5. Das Rauschhafte

Grenzerfahrungen sind Selbsterfahrungen. Das Selbst spürt sich an seinen Grenzen und erweitert sich bei der Grenzüberschreitung. Die Ambivalenz zwischen Selbstverlust und Selbstfindung wird rauschhaft erfahren und umgekehrt mischen äusserlich herbeigeführte Rauschzustände (religiöse Trance, Drogen, Extremsportarten, Blutrausch) die Karten der eigenen Identität neu. Ob zum Guten oder zum Schlechten kann von aussen schwer eingeschätzt werden. Und gänzlich unmöglich  ist diese Reflexion dem  sich im Rausch - d.h. in der vorübergehenden Umstrukturierung - befindenden Selbst. Erst im Nachhinein, in den Nachwehen des Rausches,  dem "Kater" der Selbstfindung wird sich zeigen, was gewonnen und was verloren wurde.


6. Destruktivität und/oder Ernüchterung

Denn auffällig ist auch das all diesen Massen-Jugend-Bewegungen inhärente destruktive Potential. In unterschiedlichem Masse, gewiss. Schon die Sprache entlarvt den Inhalt. Zwischen  Kriegsrhetorik, Rassenwahn und "Peace & Love"-Aufrufe im Flower Power liegen Welten. Aber sogar die Hippiekultur kennt ihre Märtyrer. Sie fielen nicht bei irgendwelchen Schlachten, sie versanken in der Drogenhölle: Joplin, Hendrix, Morrison.
Es ist das Erschrecken über die dunkle Seite seines Selbstfindungsprojektes, das Erkennen der destruktiven Anteile, das den Jugendlichen aus dem Rauschzustand erwachen lässt. Manch ein Dschihadist tritt verstört den Heimweg an. Mancher Marxist  gab enttäuscht das Politisieren auf.
Die Ernüchterung tritt ein als Differenz zwischen dem Ideal und der Realität. Aus antikapitalistischen Revoluzzern wurden Unternehmer, aus Hausbesetzern Villenbesitzer in der Toscana.



Fazit


Es soll hier nicht der Eindruck entstehen, ich werfe alle Jugendbewegungen in den selben Topf. Kerouac zu lesen und mit einer Rock'n'Roll Band durchs Land zu ziehen ist nicht dasselbe wie Anleitungen zum Bombenbau studieren und sich einer Terroristenbande anzuschliessen. Die Inhalte und Ziele unterscheiden sich. Zum Teil wie Tag und Nacht. 


Doch die vorgestellten strukturellen Ähnlichkeiten weisen auf - dem Jugendalter eigentümliche- Bedürfnisse hin, die sich in der aktuellen Debatte um die Radikalisierung junger Muslime zu bedenken lohnte. Und die nebst den nötigen sozial- und sicherheitspolitischen Massnahmen auch  psychologische und präventive Aspekte in die Diskussion einbringen sollten.










1)


(Niemand hat die Gräuel des Krieges treffender wider gegeben als Georg Trakl in seinem Gedicht "Grodek".  Trakl (1887-1914) wurde als gelernter Apotheker zur Sanität eingezogen und starb wenige Monate nach Kriegsausbruch durch eine -vielleicht bewusst herbeigeführte- Überdosis.  Es "Umfängt die Nacht / Sterbende Krieger, die wilde Klage / Ihrer zerbrochenen Münder". In diese Dunkelheit versinkt die hehre Idee des Abendlandes.)







Bruno Amatruda unterrichtet Religion am Gymnasium.