Mittwoch, 4. März 2015

Four and a Half Shades of Reformiert



Ich schaue durch die reformierte Brille und sehe viereinhalb Schattierungen von Reformierten.



Das "reformierte Profil"

1) Die Liberalen. Sie sind die grösste Gruppierung. Wenn es ein "reformiertes Profil" gibt, dann dieses: Graumelierte Haare, fliehende Stirn, prominente Nase, Bart (m) oder dezenter Schmuck (w). Das sind Individualisten, die mit beiden Füssen auf dem Boden stehen, naturwissenschaftlich denken und das Reformiertsein als Haltung leben. Sie tragen Verantwortung und Brille. Die Würde und die Freiheit des Einzelnen ist ihr höchster Wert, womit sie mit Adolf von Harnack völlig einig gehen, auch wenn sie noch nie von ihm gehört haben. Sie gehen manchmal in die Kirche. Sehr oft auch nicht.
Ihr Lieblingswort ist "Freiheit".



2) Die Sozialen. Christentum ist für sie gleichbedeutend mit Nächstenliebe. Sie engagieren sich deshalb für Kleinbauern in Burkina Faso, kaufen nur Bio-Produkte und wählen links oder Mitte-links. Oder EVP. Oft gründen sie einen Claro-Laden, der dann davon lebt, dass sie selber darin einkaufen (Käufer und Verkäufer sind je nach Wochentag identisch). Von allen Gruppierungen sind sie die ökumenisch Offensten. Den Werbeslogan "Selber denken - die Reformierten" empfinden sie als Affront gegenüber den katholischen Mitbrüdern, den koptischen Mitschwestern und dem hinduistischen Taxifahrer Rivalpamdar. Dieser Gruppierung verdanken die Reformierten ihren guten Ruf als helfende Stütze der Gesellschaft.
Ihr Lieblingswort ist "Solidarität".



3) Die "Bibeltreuen". Sie sträuben sich gegen Etikettierungen wie "evangelikal" oder "fromm", sind dabei evangelikal und fromm. Bibeltreu heisst: sie lesen die Bibel wörtlich, bzw. wehren sich gegen wissenschaftliche Interpretationen. Gebet, Gemeinschaft  und Evangelisierung sind ihnen wichtig. Deshalb entwickeln sie zuweilen eine ungeheure Dynamik und gewinnen viele Freiwillige. Antworten sind ihnen wichtiger als Fragen. Denn egal, wie die Frage lautet - die Antwort ist immer entweder "Jesus" oder "Evangelium".
Ihr Lieblingswort ist "Jesus".

4) Die Spirituellen und Sucher.
Diese Gruppierung wächst seit 20, 25 Jahren kontinuierlich: Sie entdecken uralte Frömmigkeitsstile wieder. Dogmatismus ist out, es geht um spirituelles Erleben. Sie führen Meditation und Kontemplation in die Gemeindearbeit ein, befassen sich mit Achtsamkeit und Anselm Grün und scheuen nicht die Nähe zu Zen-Buddhismus und klösterlichen Kommunitäten. Sie sind die reformierte Avantgarde und haben das grösste Wachstums- und Entfaltungspotenzial. Nach aussen, weil sie am ehesten auf den spirituellen Hunger unserer durchrationalisierten Gesellschaft eingehen können. Nach innen, weil "der Christ der Zukunft ein Mystiker sein wird. Oder gar nichts." (Karl Rahner).  Ihre Lieblingsworte sind "Spiritualität" und "Stille".








4 1/2)  Viereinhalb ist eine Untergruppe von Vier. Während Gruppe 4 offen genug ist für Einflüsse aus anderen Konfessionen, ist Viereinhalb geradezu davon besessen. Sie hegen eine Faszination für Liturgie, für katholische Inszenierung und griechisch-orthodoxe Bilder. Sie posten Ferienphotos vom Athos, kaufen Brokat aus Einsiedeln und denken laut über die Einführung des Bischofsamtes und einheitlicher Gottesdienstordnungen nach. Kerzen und Gewänder sind wichtig, die Talare weiss, manchmal tragen sie sogar ein Collar. Aussenstehende wissen nicht, ob es sich um Reformierte oder Katholiken handelt. Aber man sieht ihnen die "Geistlichkeit" an, das ist die Hauptsache. Gewisse Pfarrer sind ganz speziell:  Jeder kann nachvollziehen, dass sie über Moses predigen. Aber müssen sie auch wie Moses aussehen?
Ihr Lieblingsbegriff ist "Geistliche Autorität".


Man könnte nun einwenden, es gebe noch viel mehr Schattierungen, vielleicht sogar 50:  Die Intellektuellen, die Traditionellen, die Humorlosen, die Witzbolde usw.  Die gibt es alle auch, aber sie kommen überall vor, sind also schwer zuzuordnen. Ausser bei den Witzbolden. Die sind häufig als reformierte Blogger anzutreffen oder zwischen den Nesseln, in die sie sich gerne setzen.

Bruno Amatruda