Mittwoch, 25. Februar 2015

Reformation: 500 Jahre sind genug! --- Eine Glosse


 

 

Genug ist genug! Ein halbes Jahrtausend.
Was hat denn die Reformation in der Zeit erreicht?

Klar, sie hat das Gewissen des Einzelnen über die kirchlichen Institutionen gestellt: zwischen Mensch und Gott vermittelt kein Priester und keine Kirche. Aber nun dankt es ihr das Kirchenvolk, indem es von seiner Freiheit auch Gebrauch macht, Nähe oder Distanz zur Kirche selbst bestimmt - sogar, ob es ohne Kirche glücklich wird, sprich: aus der Kirche austritt (denn zwischen Mensch und Gott vermittelt  keine Kirche - auch keine reformierte).


Ok, sie hat das eigenständige Bibellesen gefördert und damit nicht nur die Alphabetisierung und die Demokratisierung der Bildung voran getrieben, sondern auch die Freiheit der Interpretation.
Das Resultat waren zahllose Abspaltungen, Gruppen und Sekten.

Sie hat die Würde des Einzelnen zum Zentrum erklärt (Adolf v. Harnack). Das führte zur  Freiheit des Individuums. Und diese wiederum zum ach so schlimmen Individualismus.

Sie hat die Bibel zum alleinigen Massstab erhoben. Doch das präzise Studium der Bibel mündete zwangsläufig in die historisch-kritische Methode. Diese müssen angehende Pfarrer erlernen, im Gemeindeleben ist sie aber nur in homöopathischen Dosen zu verabreichen. (Zu Risiken und Nebenwirkungen fragen Sie Ihren Exegeten).

Sie hat das "Priestertum aller Gläubigen" ausgerufen, die Unterscheidung zwischen Laien und "Geistlichen" aufgehoben und sogar Frauen zum Pfarramt zugelassen - also Folge davon ist eine "Feminisierung der Kirche" (SEK-Präsident Locher) zu befürchten.

In 500 Jahren hat  die Reformation ganze Arbeit geleistet und ist nun daran, sich selber abzuschaffen.
Das "Salz der Erde" hat die Gesellschaft durchdrungen, gewürzt und verfeinert und sich dabei scheinbar aufgelöst. Ein für Salzkristalle üblicher Vorgang. Religionssoziologen sprechen von der "Unlesbarkeit" der Reformierten. Vielleicht hat das aber mit den Soziologen zu tun: Statt Salz zu lesen, sollte man es schmecken.

Sei's drum. Das alles schmerzt das Kirchenvolk nicht im mindesten. Im Gegenteil. Wenn der Arzt gut war, ist man wieder gesund und braucht ihn im Moment nicht mehr. Aber es schmerzt den Arzt, dem die Arbeit ausgeht. (Dabei zeigte die Kirchensteuerinitiative, dass das Volk froh um den Arzt ist).

So ist es vor allem das professionelle Personal, das über die eigene Effizienz erschrickt und am liebsten vieles (wenn nicht alles) rückgängig machen möchte:

Ist es ein Zufall, dass parallel zu den Vorbereitungen auf das 500 Jahr-Jubiläum  die Einführung des reformierten Bischofsamtes diskutiert wird?
Dass gewisse Synodale die Befreiung vom Apostolikum (im 19. Jhdt.) beklagen? Dass der Ruf nach agendarischen Gottesdienstordnungen und einheitlichen Liturgien laut wird?
Dass eine Vergeistlichung des Pfarramts postuliert wird (vgl. H. Pachmanns und P. B. Rothens Schriften zum Pfarramt) und jemand sogar die Beichte für Protestanten wieder ins Gespräch bringt (P. Zimmerling, zum Glück in Deutschland)?


Die Reformation hatte sich von Beginn weg an zwei Fronten abzuarbeiten: der katholischen und der täuferischen. Ein 500jähriger Verschleisskampf macht müde. Das erklärt für mich die Rekatholisierungstendenzen und die immer grösseren Konzessionen an die selbst ernannten Nachfolger der Täufer, die sich "bibeltreu" nennen. Nirgends fand ich beides schöner vereint, als in einer Passage aus dem Buch "Gottfried Locher. Der 'reformierte Bischof' auf dem Prüfstand". Der oberste Repräsentant der Reformierten erklärt darin biblische Wunder mit dem Durchbrechen von Naturgesetzen und hält die Jungfrauengeburt für ein ebensolches Wunder.

Vor vielen Jahren fragte mich meine italienische (katholische) Cousine: "Du bist Protestant? Das sind doch die, die nicht an die Jungfrau glauben?".  Tja, liebe Cousine, das war früher.
Die Reformation darf sich jetzt zur Ruhe setzen. 500 Jahre sind genug.



Bruno Amatruda

Mittwoch, 18. Februar 2015

Allen, die in den Schweizer Medien vergeblich auf Reaktionen auf das Charlie-Massaker gewartet hatten, die etwas tiefer gehen als "Je suis Charlie"-Bekenntnisse und das Gerede von "westlichen Werten", empfehle ich diese kurzen Texte hier, u.a. von Charles Taylor:

http://blogs.ssrc.org/tif/2015/02/17/values-and-violence-thoughts-on-charlie-hebdo/

Dienstag, 3. Februar 2015

Emotionale Dissonanzen im Angesicht der Verhüllung

oder warum wir auf Burkas so heftig reagieren - warum wir NICHT nicht hinschauen können - warum wir uns deshalb "schuldig" fühlen sollen - warum das Gesicht kommunikative, emotionale und philosophische Aspekte offenbart  - warum ein verhülltes Gesicht genau zu dem wird, was es vermeiden will.








(Hinweis: Dieser lange Text kann auch diagonal gelesen werden: Einfach nur die fett gedruckten Abschnitte lesen.)

 


Kein anderes Kleidungsstück hat in letzter Zeit für so viel Gesprächsstoff gesorgt wie die Burka, beziehungsweise der Niqab. Im Zuge mehrerer Ge-ichtsentscheide im In- und Ausland wird die Frage diskutiert, wie die religiös motivierte Verhüllung des Gesichts in europäischen Gesellschaften zu handhaben sei.

Bisher wurde m.E. die Problematik um Gesichtsverschleierung und Verhül-lungsverbot vorwiegend anhand von kulturellen, religiösen, menschen-rechtlichen, feministischen, integrations- oder sogar sicherheitspolitischen Kategorien abgehandelt. Dabei sieht man sich mit dem Paradox konfron-tiert, dass die liberale Gesellschaft die Freiheit um der Freiheit Willen in Form von etwaigen Kleiderverordnungen zu beschränken sich gedrängt fühlen könnte.

Die Lausanner Rechtsprofessorin Suzette Sandoz etwa fällt im Artikel "Die Verschleierung des Gesichts bedeutet Misstrauen" das Urteil: "Ein offenes Antlitz gehört zum Selbstverständnis der westlichen Gesellschaft" (NZZ am Sonntag 4.7.2010), womit sie gewissermassen implizit den Gesichts-schleier als Feind der Popperschen „offenen Gesellschaft“ identifiziert. Und sich dennoch nicht zu einem expliziten Verbot durchringen kann.

Die z.T. disparaten Voten von Gegnern und Befürwortern eines Verbots zeugt vom tiefen Unbehagen, welches ein kleiner Stück Stoff auslöst und welches ideell vermeintlich geeinte Lager spaltet. So kann von feministischer Seite das Plädoyer für weibliche Selbstbestimmung sowohl als das Recht auf das freiwillige Tragen eines Gesichtsschleiers interpretiert werden wie auch als Verbot eines textil gewordenen Unterdrückungs-symbols. Liberale können das Burkaverbot als Grenzziehung und als Schutz westlich-freiheitlicher (in Frankreich: laizistischer) Werte begründ-en, während andere Liberale jede Reglementierung der Kleiderordnung als Eingriff in die individuellen Freiheitsrechte betrachten und somit die Liberalität der freien Gesellschaft in Gefahr sehen.

Nicht nur wird die Diskussion bisweilen hoch emotional geführt. Es ist auch die Rede von Unbehagen, von Verunsicherung gewisser Teile der Bevölkerung, gar von Ängsten. Mithin also von Gefühlen, denen ich - ganz unbesehen der nötigen religiösen, rechtlichen und politischen Aspekte- nachgehen will. 

"Fühlen heisst, in etwas involviert zu sein." So lautet das Diktum von Agnes Heller.  

Das Etwas, welches uns involviert, ist in diesem Falle ein Mensch, genauer: eine Frau, die ein Niqab trägt. Sagen wir, wir gehen die Bahnhofstrasse entlang und uns kommt die Niqabträgerin entgegen. Der ungewohnte Aufzug ruft in uns eine emotionale Reaktion hervor, wir werden "reaktiv" involviert, wie Heller sagen würde, und zwar positiv oder negativ, vielleicht beides zugleich. Was empfinden wir? Neugier, Mitleid, Verständnislosigkeit, Befremdung, Abscheu, Feindseligkeit, Wut? Sicher ist, wir fühlen nicht nichts, wir werden in etwas involviert. Und wenn wir nicht selber einer salafistischen Minderheit angehören, fühlen wir mit grösster Wahrscheinlichkeit keine Freude. Negative Gefühle prädominieren. Gleichzeitig werden wir uns bewusst, dass wir negative Gefühle hegen, was uns wiederum missfällt, schliesslich wollen wir uns nicht einmal vor dem forum internum unseres Gewissens in die Nähe fremdenfeindlicher Gedanken begeben. Das emotionale Amalgam lässt sich auf die Schnelle nicht analysieren, schon ist die unübliche Erscheinung auf der Bahnhofstrasse an uns vorbeigehuscht. 

Hier bereits, in einer wenngleich hierzulande nicht eben alltäglichen, aber doch möglichen Alltagsszene, zeigt sich die ganze Fülle an Ambivalenzen und Paradoxien, welche unsere Gefühlswelt bestimmen und all den rationalen Argumenten um Kultur, Politik etc. nicht nur vorgeordnet sind, sondern -so meine These - das Unbehagen, welches sich in der Verworrenheit des Diskurses zeigt, erst hervorbringt.
     
Gewiss hat Magda Arnold recht, wenn sie Wertüberzeugungen als konstitutiv für die Emotionsbindung ausweist (vgl. Reisenzein et al.,S.55). Die Bewertung des Phänomens (verhüllte Frau) löst je nach Konnotation den Annäherungs- oder Vermeidungsmodus aus.  Man könnte das gesellschaftliche Argument heranziehen, wonach wir uns einen solchen Anblick einfach nicht gewohnt seien. Schliesslich werden nicht nur Kleiderordnungen, sondern auch Gefühle sozial reguliert. Doch selbst, wenn ich weiss, dass das Tragen des Niqab einen kulturell-religiösen Code darstellt, löst das die emotionale Uneindeutigkeit nicht auf. In diesem Falle geht das Fühlen dem Denken voraus. Mehr noch; werden wir uns unserer negativen Gefühle bewusst, zwingt uns dies zu einer Selbst-reflexion, die „Intentionalität richtet sich diesmal an uns selbst, wir selbst werden zum Objekt unseres Selbst“ (Heller, S. 40).

Nun ist Selbstreflexion gewiss eine gute Sache. Doch dass sie uns von aussen, sprich: von der verhüllten Frau gleichsam aufgenötigt wird, mag als intrusiv empfunden werden, ebenso wie die uns zugemuteten Paradoxien: Wir wissen, dass der Niqab nach dem Selbstverständnis der Trägerin diese vor fremden (männlichen) Blicken schützen soll. Gleichzeitig stellen wir fest, dass die Niqabträgerin sämtliche (gaffenden oder verstohlenen) Blicke auf sich zieht. Und mich selbst fühle ich ertappt wie ein Kind, das etwas gesehen hat, was es nicht sehen sollte. Der Niqab ist so Verhüllung und Exponierung zugleich. Vor allem aber trägt er die paradoxe Botschaft: Involviere dich nicht! Diesem Befehl, einem „double bind“, kann man unmöglich nachkommen. Wir müssen ihn bestenfalls als Aufforderung von der Art „Lass mich in Ruhe!“ verstehen – und zwar noch bevor wir in irgendeine Art von Kontakt getreten sind. Das Apriorische der Aufforderung unterstellt seinerseits, dass wir der Frau im Niqab in irgend einer Weise zu nahe treten wollen. Es entbehrt nicht der Ironie, dass der Kontakt durch das Kontaktverbot tatsächlich überhaupt erst hergestellt wird, wenngleich im Arnoldschen Modus der Meidung.

Unsere aversiven Impluse sind also nicht dem Fremden geschuldet, oder gar einem latenten Rassismus, sondern dem paradoxen Appell. 

Das Kleidungsstück ist der sozialen Interaktion nicht nur hinderlich, sondern dient geradezu dem Ausschluss.  Ist das „Involviert sein ... nichts anderes als die regulierende Funktion des sozialen Organismus (des Subjekts, des Ichs) in seiner Beziehung zur Welt“ (Heller, S. 38), so wird  der oft hergestellte Zusammenhang zwischen Niqab, bzw. Burka und der gesellschaftlichen Integration verständlich. Die Gesichtsverschleierung markiert einerseits die von der Trägerin gezogene Grenze unseres Involviertseins, andererseits signalisiert sie die (tatsächliche oder nur von uns imaginierte) Einschränkung des Involviertseins der Verschleierten in ihrer Beziehung zur Welt, was einer zumindest partiellen Selbstabschottung gleichkommt.

Nun liesse sich einwenden, dass die Niqabträgerin uns mitnichten auf kommunikativen Abstand halten will und, würden wir sie ansprechen, uns jederzeit Antwort geben, sprich: mit uns kommunizieren würde.
Das mag durchaus der Fall sein. Die Emotionen gehen meines Erachtens bei dieser Debatte vor allem deshalb hoch, weil die Frau ihr Gesicht verhüllt.
Käme uns keine Frau im Niqab, sondern ein buddhistischer Mönch in seiner Kutte entgegen oder sogar eine als Muslima erkennbare Kopftuchträgerin, wir hätten weniger Mühe, die Erscheinung einzuordnen. Doch das verhüllte Angesicht als emotional ausstrahlendes Signal führt zu den oben beschriebenen Irritationen.

Das Gesicht nämlich ist ein Kommunikationsmedium, vielleicht sogar das Medium schlechthin, wenn es um den Ausdruck von Gefühlen geht. 


„Eine Hermeneutik des Gesichts versteht die Zeichen zu deuten, die Gesichtszüge kulturell und individuell zu interpretieren...“ (Schmid, S.252) und die darin zum Ausdruck kommenden Gefühle, das heisst aber auch: das Involviertsein des Anderen mit der Welt, mithin mit uns.
Es ist die individuelle und die soziale Person, die sich uns in ihrem unverhüllten Gesicht zeigt. „Körperlich wie seelisch handelt es sich um den Teil des Selbst, der anderen nackt angeboten wird“ (Schmid, S. 253). Mit dem Antlitz verhüllt die Niqabträgerin nicht nur einen Körperteil unter anderen, sondern gleichsam ihr Selbst, ihre Individualität. Ein verhülltes Antlitz lässt uns nicht teilhaben am Gefühlsausdruck seines Trägers, an möglichen Gedanken über uns. Zudem schafft die Tatsache, dass die Niqabträgerin verhüllt ist, ich aber nicht, ein Ungleichgewicht. Die Verschleierte sieht, ohne gesehen zu werden, was ihr möglicherweise einen Machtzuwachs beschwert, da sie mich in eine kognitiv inferiore Lage versetzt. 

Schlimmer noch: der Anblick der Verschleierten überführt mich eines Vergehens, das sich nicht vermeiden lässt. Das Verbot „Schau mich nicht an!“ kann ich nur im Modus der Verbotsübertretung wahrnehmen. 

Ich kann mich nur schuldig machen. Uns gängige Interaktionspostulate, die wir mit Begriffen wie „auf Augenhöhe kommunizieren“, „face-to-face Situation“ etc.  umschreiben,  werden obsolet.
Dies hat nicht nur kommunikative, sondern auch ethische Implikationen, „denn alle Ethik im Umgang mit anderen bleibt abstrakt, wenn deren Gesicht nicht sichtbar ist“ (Schmid, S.252). Wilhelm Schmid verweist auf Emmanuel Lévinas’ Konzept des Antlitzes. Dabei schreibt Lévinas dem Gesicht eine Sprache vor dem Sprechen zu, eine präverbale Kommunikation, die weit über ihre entwicklungspsychologische Komponente hinaus von ontologischer und ethischer Tragweite ist. Im Gesicht erscheint der andere Mensch als wesentlich Anderer, mithin also als transzendent. Das Gesicht des Anderen spricht nicht nur zu mir, sondern ruft mich auch in die Verantwortung. Die Reziprozität dieses Verhältnisses umschreibt Lévinas mit dem Begriff des „Sein-des-einen-für-den-anderen“ (Lévinas, S. 114). Lévinas hat seine ganze Ethik auf dem Antlitz aufgebaut: Das artikulierte Sprechen des anderen ist lediglich Informationsvermittlung, ja Unterweisung. „Die gesprochene Sprache...ist wesentlich belehrend“ (Lévinas, S. 41).  Im Antlitz spricht hingegen eine Sprache vor dem gesprochenen Wort, die reine Bedeutung ist, nämlich meine Bedeutung für den Anderen. Ich teile nicht etwas mit, sondern ich teile mich selber mit. Ontologisch gesprochen: mein Sein ist nicht Substanz, sondern Relation.
Das Antlitz des Anderen entzieht sich meiner Intentionalität. Lévinas weist ihn als den Ort der Exteriorität aus. Im Umkehrschluss könnte man behaupten: Verbirgt jemand nun sein Antlitz vor mir, fällt er meinem intentionalen Zugriff anheim. In psychologischer Diktion: Die Niqabträgerin wird so genau zu dem, was sie vermeiden will, nämlich zu meiner Projektionsfläche


Die Niqabträgerin wird so genau zu dem, was sie vermeiden will, nämlich zu meiner Projektionsfläche.


Da sie mir das Antlitz entzieht, habe ich darin keinen Anhalt für ihre möglichen Gefühle oder Absichten. Hingegen kann die Verhüllung Anlass zu allerlei Spekulationen geben, die ihren Niederschlag in den von manchen Politikern geäusserten sicherheitspolitischen Bedenken finden. Mit der Verhüllung des Gegenübers wird gleichsam die kommunikative und soziale Situation unlesbar und somit potenziell gefährlich. Ob diese Hermeneutik des Verdachts nur kulturell anerzogen oder auch biologisch bestimmt ist, wäre im Einzelnen noch zu unter-suchen, denn die „Auswahl dessen, was für uns in der Wahrnehmung von Bedeutung ist, geschieht ... auch aufgrund angeborener – biologischer – Verhaltensmuster (Patterns)“, (Heller, S. 27). Verdachtsmomente, Spekulationen und Projektionen sind ihrerseits sowohl gefühlsgeleitet als auch gefühlsbestimmend. Dass ihre emotionale Konnotation in unserem Falle mehrheitlich negativ ausfallen dürfte, hängt m.E. mit den kognitiven, kommunikativen und emotionalen Widersprüchen zusammen, welche die Verschleierung des menschlichen Gesichts auslösen.

 Zusammenfassend in Thesen:


- Nicht die fremdartige Kleidung, nicht die durch diese zur Schau getragene kulturelle Andersartigkeit oder das Bekenntnis zu einer bestimmten Religion lösen Unbehagen aus, nicht einmal, dass irgend ein Körperteil bedeckt wird, sondern die Tatsache, dass dieser Körperteil das Gesicht ist.

- Der Anblick einer gesichtsverhüllten Frau löst emotionale Dissonanzen  aus, weil er uns in kommunikative Paradoxien verwickelt.

- Die Verhüllung des Gesichts hat nicht nur die Nichtlesbarkeit des Gegenübers zur Folge sondern auch die Nichtlesbarkeit der sozialen Situation, welche als potenziell gefährlich eingestuft wird.

- Die hohe Emotionalität des Diskurses (Burkaverbot) entspringt nur scheinbar den divergierenden Auffassungen von Frauenrechten, Religionsfreiheit, Staatsaufgaben etc. Dem allen vorgeordnet ist die von aufgedrängten Paradoxien und Ambivalenzen bestimmte Gefühlslage, in welche wir vor dem Phänomen des verhüllten Antlitzes geraten.



Natürlich liesse sich hier in verschiedene Richtungen weiter bohren.
Die kulturelle Verfasstheit der Gefühle, auf die Agnes Heller hinweist, kann erklären, warum ein Kind, das in Afghanistan aufwächst, im Unterschied zu uns keinerlei Probleme mit der Verschleierung seiner weiblichen Familienmitglieder, bzw. mit dem Anblick von Burkas haben dürfte. Wäre es für uns im Westen also möglich, unsere Gefühlsregungen in dieser Sache zu modulieren und zu transformieren,  und wäre das überhaupt machbar, ja wünschenswert?

Zu diskutieren wäre etwa auch das Konzept des Antlitzes als ethischen Ankerpunkt. Bedeutet Verschleierung, sich aus der ethischen Gemeinschaft auszuklinken? Man wird wohl nicht annehmen können, dass die Gesichtsverschleierte ihren Status als ethisches Subjekt verliert. Wessen Grenze markiert der Niqab, jene der Frau, die mir als Mann damit Übergriffigkeit unterstellt? Oder jene ihres Ehemannes, der über einen Besitz zu wahren hat? Gibt es ein Recht auf Selbstausschluss Selbst wenn die Niqabträgerin sich aus freien Stücken (zumindest partiell) der sozialen Interaktion verweigert; kann ihr diese Verweigerung nicht auch zugestan-den werden, ohne sie gleich der Renitenz, der subversiven Gesinnung oder gar des sozialen Autismus zu bezichtigen? Gibt es einen Zwang zur Gemeinschaft? Wie viel Andersartigkeit kann oder will sich eine Gesellschaft leisten?
Diese weiterführenden Gedanken betreffen die philosophische, juristische oder politische Ebene. Ebenso die Frage, ob ein allfälliges Burkaverbot, dessen Diskussion zu Beginn dieser Ausführungen stand,  die erwähnten Dissonanzen auflösen würde, ja ob ein Verbot einem liberalen Staat überhaupt angemessen ist. Hier soll lediglich der Versuch unternommen werden, das Thema anhand einiger von Agnes Heller und Wilhelm Schmid (dieser im Anschluss an E. Lévinas) bereit gestellten Kategorien auf ihren kognitiv-emotionalen Gehalt hin zu beleuchten. Dieser bestimmt m.E. die gesellschaftspolitische Debatte um die Gesichtsverschleierung subkutan viel stärker, als das rationale Argumentarium vermuten lässt, zumal, wenn man sich eben dieser emotionalen und psychologischen Zusammenhänge nicht bewusst ist.

Bruno Amatruda 







Literatur:

Heller, Agnes, Theorie der Gefühle, Hamburg 1980

Lévinas, Emmanuel, Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität, Freiburg/München, 1987

Reisenzein et al., Einführung in die Emotionspsychologie, Band III, Kognitive Emotionstheorien, Kap. 2, Die Emotionstheorie von Arnold und Lazarus, Bern, 2003

Schmid, Wilhelm: Mit sich selbst befreundet sein. Von der Lebenskunst im Umgang mit sich selbst, Frankfurt a.M., 2004