oder warum wir auf Burkas so heftig reagieren - warum wir NICHT nicht hinschauen können - warum wir uns deshalb "schuldig" fühlen sollen - warum das Gesicht kommunikative, emotionale und philosophische Aspekte offenbart - warum ein verhülltes Gesicht genau zu dem wird, was es vermeiden will.
(Hinweis: Dieser lange Text kann auch diagonal gelesen werden: Einfach nur die fett gedruckten Abschnitte lesen.)
Kein anderes Kleidungsstück hat in letzter Zeit für so viel
Gesprächsstoff gesorgt wie die Burka, beziehungsweise der Niqab. Im Zuge
mehrerer Ge-ichtsentscheide im In- und Ausland wird die Frage diskutiert, wie
die religiös motivierte Verhüllung des Gesichts in europäischen Gesellschaften
zu handhaben sei.
Bisher wurde m.E. die Problematik um Gesichtsverschleierung
und Verhül-lungsverbot vorwiegend anhand von kulturellen, religiösen, menschen-rechtlichen,
feministischen, integrations- oder sogar sicherheitspolitischen Kategorien
abgehandelt. Dabei sieht man sich mit dem Paradox konfron-tiert, dass die
liberale Gesellschaft die Freiheit um der Freiheit Willen in Form von
etwaigen Kleiderverordnungen zu beschränken sich gedrängt fühlen könnte.
Die Lausanner Rechtsprofessorin Suzette Sandoz etwa fällt im
Artikel "Die Verschleierung des Gesichts bedeutet Misstrauen" das
Urteil: "Ein offenes Antlitz gehört zum Selbstverständnis der westlichen
Gesellschaft" (NZZ am Sonntag 4.7.2010), womit sie gewissermassen implizit
den Gesichts-schleier als Feind der Popperschen „offenen Gesellschaft“
identifiziert. Und sich dennoch nicht zu einem expliziten Verbot durchringen
kann.
Die z.T. disparaten Voten von Gegnern und Befürwortern eines
Verbots zeugt vom tiefen Unbehagen, welches ein kleiner Stück Stoff auslöst und
welches ideell vermeintlich geeinte Lager spaltet. So kann von feministischer
Seite das Plädoyer für weibliche Selbstbestimmung sowohl als das Recht auf das
freiwillige Tragen eines Gesichtsschleiers interpretiert werden wie auch als
Verbot eines textil gewordenen Unterdrückungs-symbols. Liberale können das
Burkaverbot als Grenzziehung und als Schutz westlich-freiheitlicher (in Frankreich:
laizistischer) Werte begründ-en, während andere Liberale jede Reglementierung
der Kleiderordnung als Eingriff in die individuellen Freiheitsrechte betrachten
und somit die Liberalität der freien Gesellschaft in Gefahr sehen.
Nicht nur wird die Diskussion bisweilen hoch emotional geführt.
Es ist auch die Rede von Unbehagen, von Verunsicherung gewisser Teile der
Bevölkerung, gar von Ängsten. Mithin also von Gefühlen, denen ich - ganz
unbesehen der nötigen religiösen, rechtlichen und politischen Aspekte-
nachgehen will.
"Fühlen heisst, in etwas involviert zu sein." So
lautet das Diktum von Agnes Heller.
Das Etwas, welches uns involviert, ist in diesem Falle ein
Mensch, genauer: eine Frau, die ein Niqab trägt. Sagen wir, wir gehen die
Bahnhofstrasse entlang und uns kommt die Niqabträgerin entgegen. Der
ungewohnte Aufzug ruft in uns eine emotionale Reaktion hervor, wir werden
"reaktiv" involviert, wie Heller sagen würde, und zwar positiv oder
negativ, vielleicht beides zugleich. Was empfinden wir? Neugier, Mitleid,
Verständnislosigkeit, Befremdung, Abscheu, Feindseligkeit, Wut? Sicher ist, wir
fühlen nicht nichts, wir werden in etwas involviert. Und wenn wir nicht selber
einer salafistischen Minderheit angehören, fühlen wir mit grösster
Wahrscheinlichkeit keine Freude. Negative Gefühle prädominieren. Gleichzeitig
werden wir uns bewusst, dass wir negative Gefühle hegen, was uns wiederum
missfällt, schliesslich wollen wir uns nicht einmal vor dem forum internum
unseres Gewissens in die Nähe fremdenfeindlicher Gedanken begeben. Das
emotionale Amalgam lässt sich auf die Schnelle nicht analysieren, schon ist die
unübliche Erscheinung auf der Bahnhofstrasse an uns vorbeigehuscht.
Hier bereits, in einer wenngleich hierzulande nicht eben
alltäglichen, aber doch möglichen Alltagsszene, zeigt sich die ganze Fülle an
Ambivalenzen und Paradoxien, welche unsere Gefühlswelt bestimmen und all den rationalen
Argumenten um Kultur, Politik etc. nicht nur vorgeordnet sind, sondern -so
meine These - das Unbehagen, welches sich in der Verworrenheit des
Diskurses zeigt, erst hervorbringt.
Gewiss hat Magda Arnold recht, wenn sie Wertüberzeugungen
als konstitutiv für die Emotionsbindung ausweist (vgl. Reisenzein et al.,S.55).
Die Bewertung des Phänomens (verhüllte Frau) löst je nach Konnotation den
Annäherungs- oder Vermeidungsmodus aus. Man könnte das gesellschaftliche Argument heranziehen, wonach
wir uns einen solchen Anblick einfach nicht gewohnt seien. Schliesslich werden nicht
nur Kleiderordnungen, sondern auch Gefühle sozial reguliert. Doch selbst, wenn ich weiss, dass das Tragen des Niqab einen
kulturell-religiösen Code darstellt, löst das die emotionale Uneindeutigkeit
nicht auf. In diesem Falle geht das Fühlen dem Denken voraus. Mehr noch;
werden wir uns unserer negativen Gefühle bewusst, zwingt uns dies zu einer
Selbst-reflexion, die „Intentionalität richtet sich diesmal an uns selbst, wir
selbst werden zum Objekt unseres Selbst“ (Heller, S. 40).
Nun ist Selbstreflexion gewiss eine gute Sache. Doch dass
sie uns von aussen, sprich: von der verhüllten Frau gleichsam aufgenötigt wird,
mag als intrusiv empfunden werden, ebenso wie die uns zugemuteten Paradoxien: Wir
wissen, dass der Niqab nach dem Selbstverständnis der Trägerin diese vor
fremden (männlichen) Blicken schützen soll. Gleichzeitig stellen wir fest, dass
die Niqabträgerin sämtliche (gaffenden oder verstohlenen) Blicke auf sich
zieht. Und mich selbst fühle ich ertappt wie ein Kind, das etwas gesehen hat,
was es nicht sehen sollte. Der Niqab ist so Verhüllung und Exponierung
zugleich. Vor allem aber trägt er die paradoxe Botschaft: Involviere dich
nicht! Diesem Befehl, einem „double bind“, kann man unmöglich nachkommen. Wir
müssen ihn bestenfalls als Aufforderung von der Art „Lass mich in Ruhe!“
verstehen – und zwar noch bevor wir in irgendeine Art von Kontakt getreten
sind. Das Apriorische der Aufforderung unterstellt seinerseits, dass wir der
Frau im Niqab in irgend einer Weise zu nahe treten wollen. Es entbehrt nicht
der Ironie, dass der Kontakt durch das Kontaktverbot tatsächlich überhaupt erst
hergestellt wird, wenngleich im Arnoldschen Modus der Meidung.
Unsere aversiven Impluse sind also nicht dem Fremden geschuldet, oder gar einem latenten Rassismus, sondern dem paradoxen Appell.
Das Kleidungsstück ist der sozialen Interaktion nicht nur hinderlich, sondern dient geradezu dem Ausschluss. Ist das „Involviert sein ... nichts anderes als die regulierende Funktion des sozialen Organismus (des Subjekts, des Ichs) in seiner Beziehung zur Welt“ (Heller, S. 38), so wird der oft hergestellte Zusammenhang zwischen Niqab, bzw. Burka und der gesellschaftlichen Integration verständlich. Die Gesichtsverschleierung markiert einerseits die von der Trägerin gezogene Grenze unseres Involviertseins, andererseits signalisiert sie die (tatsächliche oder nur von uns imaginierte) Einschränkung des Involviertseins der Verschleierten in ihrer Beziehung zur Welt, was einer zumindest partiellen Selbstabschottung gleichkommt.
Nun liesse sich einwenden, dass die Niqabträgerin uns
mitnichten auf kommunikativen Abstand halten will und, würden wir sie
ansprechen, uns jederzeit Antwort geben, sprich: mit uns kommunizieren würde.
Das mag durchaus der Fall sein. Die Emotionen gehen meines
Erachtens bei dieser Debatte vor allem deshalb hoch, weil die Frau ihr
Gesicht verhüllt.
Käme uns keine Frau im Niqab, sondern ein buddhistischer
Mönch in seiner Kutte entgegen oder sogar eine als Muslima erkennbare Kopftuchträgerin,
wir hätten weniger Mühe, die Erscheinung einzuordnen. Doch das verhüllte
Angesicht als emotional ausstrahlendes Signal führt zu den oben beschriebenen
Irritationen.
Das Gesicht nämlich ist ein Kommunikationsmedium, vielleicht sogar das Medium schlechthin, wenn es um den Ausdruck von Gefühlen geht.
„Eine Hermeneutik des Gesichts versteht die Zeichen zu deuten, die Gesichtszüge kulturell und individuell zu interpretieren...“ (Schmid, S.252) und die darin zum Ausdruck kommenden Gefühle, das heisst aber auch: das Involviertsein des Anderen mit der Welt, mithin mit uns.
Es ist die individuelle und die soziale Person, die sich uns
in ihrem unverhüllten Gesicht zeigt. „Körperlich wie seelisch handelt es sich
um den Teil des Selbst, der anderen nackt angeboten wird“ (Schmid, S. 253). Mit
dem Antlitz verhüllt die Niqabträgerin nicht nur einen Körperteil unter
anderen, sondern gleichsam ihr Selbst, ihre Individualität. Ein verhülltes Antlitz
lässt uns nicht teilhaben am Gefühlsausdruck seines Trägers, an möglichen
Gedanken über uns. Zudem schafft die Tatsache, dass die Niqabträgerin verhüllt
ist, ich aber nicht, ein Ungleichgewicht. Die Verschleierte sieht, ohne gesehen
zu werden, was ihr möglicherweise einen Machtzuwachs beschwert, da sie mich in
eine kognitiv inferiore Lage versetzt.
Schlimmer noch: der Anblick der Verschleierten überführt mich eines Vergehens, das sich nicht vermeiden lässt. Das Verbot „Schau mich nicht an!“ kann ich nur im Modus der Verbotsübertretung wahrnehmen.
Ich kann mich nur schuldig machen. Uns gängige
Interaktionspostulate, die wir mit Begriffen wie „auf Augenhöhe kommunizieren“,
„face-to-face Situation“ etc. umschreiben,
werden obsolet.
Dies hat nicht nur kommunikative, sondern auch ethische
Implikationen, „denn alle Ethik im Umgang mit anderen bleibt abstrakt, wenn
deren Gesicht nicht sichtbar ist“ (Schmid, S.252). Wilhelm Schmid verweist auf
Emmanuel Lévinas’ Konzept des Antlitzes. Dabei schreibt Lévinas dem Gesicht
eine Sprache vor dem Sprechen zu, eine präverbale Kommunikation, die weit über
ihre entwicklungspsychologische Komponente hinaus von ontologischer und
ethischer Tragweite ist. Im Gesicht erscheint der andere Mensch als wesentlich
Anderer, mithin also als transzendent. Das Gesicht des Anderen spricht nicht
nur zu mir, sondern ruft mich auch in die Verantwortung. Die Reziprozität
dieses Verhältnisses umschreibt Lévinas mit dem Begriff des
„Sein-des-einen-für-den-anderen“ (Lévinas, S. 114). Lévinas hat seine ganze
Ethik auf dem Antlitz aufgebaut: Das artikulierte Sprechen des anderen ist
lediglich Informationsvermittlung, ja Unterweisung. „Die gesprochene
Sprache...ist wesentlich belehrend“ (Lévinas, S. 41). Im Antlitz spricht
hingegen eine Sprache vor dem gesprochenen Wort, die reine Bedeutung ist,
nämlich meine Bedeutung für den Anderen. Ich teile nicht etwas mit, sondern ich
teile mich selber mit. Ontologisch gesprochen: mein Sein ist nicht Substanz,
sondern Relation.
Das Antlitz des Anderen entzieht sich meiner
Intentionalität. Lévinas weist ihn als den Ort der Exteriorität aus. Im
Umkehrschluss könnte man behaupten: Verbirgt jemand nun sein Antlitz vor mir,
fällt er meinem intentionalen Zugriff anheim. In psychologischer Diktion: Die
Niqabträgerin wird so genau zu dem, was sie vermeiden will, nämlich zu meiner
Projektionsfläche.
Die Niqabträgerin wird so genau zu dem, was sie vermeiden will, nämlich zu meiner Projektionsfläche.
Da sie mir das Antlitz entzieht, habe ich darin keinen
Anhalt für ihre möglichen Gefühle oder Absichten. Hingegen kann die Verhüllung
Anlass zu allerlei Spekulationen geben, die ihren Niederschlag in den von
manchen Politikern geäusserten sicherheitspolitischen Bedenken finden. Mit der
Verhüllung des Gegenübers wird gleichsam die kommunikative und soziale
Situation unlesbar und somit potenziell gefährlich. Ob diese Hermeneutik des
Verdachts nur kulturell anerzogen oder auch biologisch bestimmt ist, wäre im
Einzelnen noch zu unter-suchen, denn die „Auswahl dessen, was für uns in der
Wahrnehmung von Bedeutung ist, geschieht ... auch aufgrund angeborener –
biologischer – Verhaltensmuster (Patterns)“, (Heller, S. 27). Verdachtsmomente,
Spekulationen und Projektionen sind ihrerseits sowohl gefühlsgeleitet als auch
gefühlsbestimmend. Dass ihre emotionale Konnotation in unserem Falle
mehrheitlich negativ ausfallen dürfte, hängt m.E. mit den kognitiven,
kommunikativen und emotionalen Widersprüchen zusammen, welche die
Verschleierung des menschlichen Gesichts auslösen.
Zusammenfassend in Thesen:
- Nicht die fremdartige Kleidung, nicht die durch diese zur Schau getragene kulturelle Andersartigkeit oder das Bekenntnis zu einer bestimmten Religion lösen Unbehagen aus, nicht einmal, dass irgend ein Körperteil bedeckt wird, sondern die Tatsache, dass dieser Körperteil das Gesicht ist.
- Der Anblick einer gesichtsverhüllten Frau löst emotionale Dissonanzen aus, weil er uns in kommunikative Paradoxien verwickelt.
- Die Verhüllung des Gesichts hat nicht nur die Nichtlesbarkeit des Gegenübers zur Folge sondern auch die Nichtlesbarkeit der sozialen Situation, welche als potenziell gefährlich eingestuft wird.
- Die hohe Emotionalität des Diskurses (Burkaverbot) entspringt nur scheinbar den divergierenden Auffassungen von Frauenrechten, Religionsfreiheit, Staatsaufgaben etc. Dem allen vorgeordnet ist die von aufgedrängten Paradoxien und Ambivalenzen bestimmte Gefühlslage, in welche wir vor dem Phänomen des verhüllten Antlitzes geraten.
Natürlich liesse sich hier in verschiedene Richtungen weiter
bohren.
Die kulturelle Verfasstheit der Gefühle, auf die Agnes
Heller hinweist, kann erklären, warum ein Kind, das in Afghanistan aufwächst,
im Unterschied zu uns keinerlei Probleme mit der Verschleierung seiner
weiblichen Familienmitglieder, bzw. mit dem Anblick von Burkas haben dürfte.
Wäre es für uns im Westen also möglich, unsere Gefühlsregungen in dieser Sache
zu modulieren und zu transformieren, und wäre das
überhaupt machbar, ja wünschenswert?
Zu diskutieren wäre etwa auch das Konzept des Antlitzes als
ethischen Ankerpunkt. Bedeutet Verschleierung, sich aus der ethischen
Gemeinschaft auszuklinken? Man wird wohl nicht annehmen können, dass die
Gesichtsverschleierte ihren Status als ethisches Subjekt verliert. Wessen
Grenze markiert der Niqab, jene der Frau, die mir als Mann damit
Übergriffigkeit unterstellt? Oder jene ihres Ehemannes, der über einen Besitz
zu wahren hat? Gibt es ein Recht auf Selbstausschluss Selbst wenn die
Niqabträgerin sich aus freien Stücken (zumindest partiell) der sozialen
Interaktion verweigert; kann ihr diese Verweigerung nicht auch zugestan-den
werden, ohne sie gleich der Renitenz, der subversiven Gesinnung oder gar des
sozialen Autismus zu bezichtigen? Gibt es einen Zwang zur Gemeinschaft? Wie viel
Andersartigkeit kann oder will sich eine Gesellschaft leisten?
Diese weiterführenden Gedanken betreffen die philosophische,
juristische oder politische Ebene. Ebenso die Frage, ob ein allfälliges Burkaverbot,
dessen Diskussion zu Beginn dieser Ausführungen stand, die erwähnten Dissonanzen auflösen
würde, ja ob ein Verbot einem liberalen Staat überhaupt angemessen ist. Hier soll lediglich der Versuch unternommen werden, das
Thema anhand einiger von Agnes Heller und Wilhelm Schmid (dieser im Anschluss
an E. Lévinas) bereit gestellten Kategorien auf ihren kognitiv-emotionalen Gehalt
hin zu beleuchten. Dieser bestimmt m.E. die gesellschaftspolitische Debatte um
die Gesichtsverschleierung subkutan viel stärker, als das rationale
Argumentarium vermuten lässt, zumal, wenn man sich eben dieser emotionalen und
psychologischen Zusammenhänge nicht bewusst ist.
Literatur:
Heller, Agnes, Theorie der Gefühle, Hamburg 1980
Lévinas, Emmanuel, Totalität und Unendlichkeit. Versuch über
die Exteriorität, Freiburg/München, 1987
Reisenzein et al., Einführung in die Emotionspsychologie,
Band III, Kognitive Emotionstheorien, Kap. 2, Die Emotionstheorie von Arnold
und Lazarus, Bern, 2003
Schmid, Wilhelm: Mit sich selbst befreundet sein. Von der
Lebenskunst im Umgang mit sich selbst, Frankfurt a.M., 2004
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