Mittwoch, 14. Januar 2015

"Religiöse Gefühle". Anatomie eines Phantoms.


Seit dem Karikaturenstreit 2006, erst recht aber seit dem Attentat auf Charlie Hebdo geistert ein Begriff durch Artikel, Kommentare und Essays: das religiöse Gefühl. Darf Satire alles, wird gefragt, auch religiöse Gefühle verletzen? 






Was aber ist mit „religiösem Gefühl“ überhaupt gemeint? Der Begriff ist doppelt unscharf.
Zum einen, weil Religiosität definiert werden müsste. Zum andern aber, und das wiegt schwerer, weil „Gefühl“ –so sehr wir alltagssprachlich zu wissen meinen, was wir damit bezeichnen- sich als die sprachliche Simplifizierung hochkomplexer innerer Vorgänge erweist. Davon zeugt schon die Auffächerung innerhalb der Wortfamilie: Gefühl, Emotion, Empfindung, Gespür, Stimmung, Befindlichkeit etc.
Die Unschärfe des umgangssprachlichen Gefühlsbegriffes zeigt sich auch etwa darin, dass sich bei seelischen Belastungen ein Gefühlswirrwarr einstellt, das mit Hilfe eines Therapeuten erst entwirrt, d.h. in seine körperlichen, biographischen, sozialen Einzelteile zerlegt (Analyse = Zerlegung) werden muss, damit der Patient überhaupt versteht, was er fühlt.
Zum Gefühl gehören wesentlich Impulse, Gedanken und Bewertungen.
Im Englischen werden Begriffe wie emotion, feeling, sense ausdifferenziert und mit appraisal, cognition, sogar beliefs und concepts in Verbindung gebracht. Darauf soll hier nicht  im einzelnen eingegangen werden.  Wichtig scheint mir das Statement von Amelie Rorty: „Emotions do not form a natural class“ (1).  Es gibt keine natürlichen Gefühle. Gefühle zeichnen sich durch die Konvergenz von körperlichen Stimuli und deren biographischen, sozialen und kulturellen Interpretationen aus. Diese muss erlernt werden. Der Säugling weiss noch nicht, dass das Knurren im Magen nichts anderes als Hunger ist. In der Kommunikation mit der ihn spiegelnden Mutter lernt er seine „Gefühle“ überhaupt erst verstehen und auszudrücken und irgendwann zu regulieren.
Umgekehrt werden Gefühle auch sozial hervorgebracht.  So kann ein bestimmtes Verhalten von der einen Gruppe geächtet und sanktioniert werden und das Gefühl Scham oder Schuld hervorrufen, während dasselbe Verhalten in einer anderen Gesellschaft toleriert oder gar erwünscht wird.

Wenn also Gefühle keine naturgegebene Grösse sind, sondern nur immer sozial (mit)konstruiert,  wenn es also keine Gefühle-an-sich gibt, ist dann die Rede von religiösen Gefühlen nicht ebenso sinnlos wie die von sportlichen Emotionen oder musikalischen Gefühlen?

Es steht ausser Frage, dass Sport und Musik Gefühle auslösen, aber die Gefühle selbst können Begeisterung, Erhebung, Euphorie, Melancholie, Trauer sein. Man käme nicht auf die Idee, die von Musik und Sport ausgelösten Gefühle selbst als sportlich oder musikalisch zu bezeichnen, als würden Gefühle ertönen oder sich sportlich betätigen. (Mit Musikgefühl  ist allenfalls der musikalische Ausdruck oder der emotionale Ausdruck mit musikalischen Mitteln gemeint).

Kommen wir zu den sogenannten religiösen Gefühlen. In der Emotionspsychologie und –philosophie besteht Einigkeit darüber, dass Gefühle immer auch intentionalen Charakter haben. Sie richten sich auf etwas oder jemanden. Dem subjektiven Aspekt (ich fühle etwas, z.B. Wut) entspricht ein Objekt (Wut auf den Chef). Wäre demnach ein Gefühl, das sich auf einen religiösen Gegenstand (Gott, Heiliges Buch, usw.) richtet, ein religiöses Gefühl? Ich meine nicht. Das Gefühl, das intentional auf den religiösen Gegenstand gerichtet ist, mag Freude, Ehrfurcht, Andacht, Geborgenheit, Trost sein. Nur der Gegenstand ist religiös, das Gefühl selbst ist es eben so wenig, wie das von Musik ausgelöste Gefühl selbst musikalisch ist.

These 1: Es gibt keine „religiösen Gefühle“. Es gibt allerdings Gefühle, die sich auf einen religiösen Inhalt beziehen oder durch religiöse Lehrsätze und Praktiken befördert werden.

Hier liesse sich schliessen mit der plakativen Feststellung: Weil es keine religiösen Gefühle gibt, können sie auch nicht verletzt werden. Und weil sie nicht verletzt werden können, brauchen sie auch nicht vor Satire geschützt zu werden.

Doch das scheint mir zu billig. Tatsache ist, dass Religion –wie Musik, Sport und vieles mehr- Gefühle verursacht. Und dies nicht  zu knapp.

Ich will im folgenden zwei Arten von Gefühlen unterscheiden, die Religion auslösen kann.  Die eine Art ist gegen Verletzungen immun. Die andere hingegen ist anfällig.

Die ernsthafte religiöse Praxis kann beim Gläubigen mit Gefühlen verbunden sein wie Geborgenheit, Hoffnung, Halt, Freude, Euphorie. Mystische Übungen in allen Religionen führen zum ozeanischen Gefühl des Einsseins mit dem Kosmos, mit Gott oder wie immer dieses Unaussprechliche genannt wird.  Diese Art von Gefühl, so denn es echt ist,  kann durch nichts verletzt werden. Weder Karikaturen noch Beleidigungen können ihm etwas anhaben, da das Erlebte von ganz eigener Qualität ist, die von aussen nicht in Frage gestellt werden kann. Dieser  subjektiven Realität ist sich das Selbst vorbehaltlos gewiss.

These 2: Von Religion zutage geförderte Gefühle betreffen das subjektive Erleben und können von aussen weder gekränkt, verspottet noch verletzt werden.

Anders hingegen verhält es sich mit dem religiös mitverursachten Gefühl der Identität. Da Religion sowohl ein psychologisches wie auch ein soziales Phänomen ist, wirkt sie auf den Gläubigen identitätsstiftend. Die Selbstwahrnehmung und das Gefühl, ein kohärentes Selbst zu sein, weitet sich bei Gläubigen auf seine Religionszugehörigkeit aus. Werden Religionsangehörige pauschal verhöhnt oder beleidigt, wird das auch den einzelnen Gläubigen beleidigen. Im übrigen lässt sich dieser Umstand auf jede soziologische Gruppe übertragen: wer alle Italiener beleidigt, meint auch mich. Wer Banker pauschal als Halunken verurteilt, trifft auch den angständigen Bankangestellten.

Hier - und NUR hier! - sollte die Satire ihre Grenzen ziehen. Und -so weit ich sehe-  tut sie das auch. Denn die Identität eines Menschen gehört zu seiner Menschenwürde, die es zu schützen gilt. Deshalb erachten wir Witze über Homosexuelle, Juden, Frauen etc. als anstössig. Wer Witze macht über Muslime, WEIL sie Muslime sind (wahlweise: Atheisten, Behinderte, Dunkelhäutige oder Rothaarige), der ist weder witzig noch anständig.
Allein: die Zugehörigkeit zu einer Gruppe -selbst wenn es sich um eine religiöse Gruppe handelt- ist auch kein religiöses Gefühl. Wir schützen hiermit also keine "religiösen" Gefühle, sondern lediglich die Identität verschiedener Menschengruppen.

Nun könnte man einwenden, auch die Identität von Salafisten sei schützenswert und folglich müssten wir punkto Karikaturen ihrer Befindlichkeit Rechnung tragen.
Nein. Die europäischen Gesellschaften -geschichtsträchtig, wie sie sind- haben ein feines Gespür entwickelt für historisch gewachsenen Identität im Gegensatz zu neumodischen Identifikationen. Salafisten, meist junge Konvertiten, geben -zumal wenn sie Deutsche oder Schweizer sind- deshalb das Bild einer Maskerade ab, weil Identität (junge Europäer im 21. Jhdt.) und Identifizierung (alte Araber im 7. Jhdt.) in offensichtlicher Diskrepanz stehen. Wären die mutmasslichen Hintermänner und Geldgeber nicht undurchsichtig und folglich potenziell bedrohliche Figuren aus dem Mittleren/Nahen Osten, könnte man darüber lachen, wie vor wenigen Jahrzehnten über die orangefarbenen Hare Krischnas vom Zürichberg.

Die Identität ist also zu schützen; die Identifikation hingegen nicht. Will heissen: Schotten als geizig und Italiener als arbeitsscheu zu karikieren, ist anstössig, weil es identitäre Gefühle verletzt. "Haggis" (schottisches Darmgericht) zu verulken oder Mussolini zu verspotten, ist es nicht - egal wieviele Schotten oder Italiener sich damit identifizieren. Man kann nun dasselbe über die Religionen sagen. Vor allem aber, hinterfrage man den Begriff des "religiösen Gefühls".

Fassen wir zusammen:

1. "Religiöse" Gefühle sind ein Phantom. Es gibt keine "religiösen Gefühle".
2. Gefühle, die aus religiösen Überzeugungen oder Praktiken erwachsen, können im Grunde gar nicht "verletzt" werden.
3. Religiöse Identität gehört, wie die nationale, ethnische, sexuelle Identität zur Menschenwürde und ist zu schützen.
4. Nicht zu schützen hingegen ist alles, was nicht der Gläubige selber IST, sondern womit sich dieser lediglich identifiziert.


Bruno Amatruda





(1)Amelie Rorty, Explaining Emotions, University of California Press, 1980

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