Freitag, 5. Dezember 2014

Krieg, Dschihad, Rebellion als Selbstfindungsprojekte







Vor hundert Jahren meldeten sich junge Männer scharenweise als Kriegsfreiwillige. Was später als  Erster Weltkrieg in die Geschichte eingehen würde, diente im August 1914 Heerscharen von heranwachsenden Europäern als Projektionsfläche. Der Eintritt in ein romantisch vorgestelltes Soldatenleben war motiviert vom Ideal einer anderen, neuen, besseren Gesellschaft und begleitet vom Hunger nach Abenteuer und höherem Sinn, vom Traum der Teilhabe an der inneren kulturellen Reinigung durch Heldentum und Opferbereitschaft auf dem Schlachtfeld.







Natürlich trug die Propaganda zu dieser Grundstimmung das ihre bei. Doch sie konnte nur dort wirken, wo sie auf den uneingelösten Wunsch nach jugendlicher Selbstüberschreitung traf. Denn zu allen Zeiten gehörte es zur Jugend, sich selbst durch Grenzüberschreitung zu definieren, sprich: sich selbst zu finden.
Freilich schlug die Kriegsbegeisterung angesichts einer noch nie da gewesenen Brutalität sehr schnell in Schrecken und später in Hoffnungslosigkeit um. Die monströse Realität in den Schützengräben hatte jegliches Kriegspathos Lügen gestraft. (1)



Hundert Jahre später steht die Öffentlichkeit fassungslos vor dem Phänomen radikalisierter Muslime, die ihr europäisches Geburts- oder Gastland verlassen, um sich in Syrien und im Irak dem Islamischen Staat anzuschliessen.


Man hat dieser verstörenden Entwicklung mit wirtschaftlich-politischen und soziologischen Erklärungen beizukommen versucht. Mangelnde Integration oder schlechte Zukunfts-aussichten mögen für einen Teil der Neodschihadisten ausschlaggebend sein. Ich meine aber, dass entwicklungs- und identitätspsychologische Aspekte die wichtigere Rolle spielen. So dass sich das Wachstum der Salafistenszene in Europa (und die Kriegswilligkeit an ihrem extremen Rand) als Teil einer Jugendbewegung beschreiben lässt.


In den 100 Jahren zwischen dem Ersten Weltkrieg und heute haben wir verschiedene Revolten dieser Art erlebt: Den Aufschwung des Nationalsozialismus, die Hippies und die 68er-Bewegung, das Erstarken religiöser Fundamentalismen.
So unterschiedlich deren Inhalte (und deren Ausgang) auch waren, die gemeinsamen Strukturelemente lassen ein wiederkehrendes Muster erkennen.



1. Es handelt sich um Absetzbewegungen. 

Die Kultur der Väter, das Establishment, die Verweltlichung, die Moderne etc. werden radikal in Frage gestellt. Die Verwurzelung (radikal von radix, lat. für Wurzel) im Bestehenden wird aufgehoben.  Identität (zumal die im Jugendalter noch in Entwicklung sich befindende) bildet sich immer in Auseinandersetzung mit den anderen. Cliquen- und Gruppenbildungen erfolgen wesentlich auch durch Abgrenzungen nach aussen. Gegen andere Gruppen, gegen "die Gesellschaft" oder die Elterngeneration. (Bonhoeffer soll die Nazi-Bewegung sehr früh als Aufstand gegen die Vaterfigur erkannt haben).Es erstaunt nicht, dass jugendliche Salafisten ihren schockierten Eltern spirituelle Verweichlichung oder Anpassung an die westliche Lebensform vorwerfen. Ebenso wenig, dass sich auffällig viele junge Konvertiten unter den Sprachführern der Bewegung finden. Das Karnevaleske ihrer öffentlichen Auftritte (man denke an die vollverschleierte Nora Illi in verschiedenen Talk-Sendungen) sendet -ganz ungeachtet der weltanschaulichen Unterschiede- fürs bürgerliche Publikum ein ähnliches Signal aus wie damals die langen Haare der Rolling Stones.

 2. Vorbilder und Führungsfiguren

Jugendliche, zumal männliche, bilden Gruppen (soziologisch:"Peer-Groups", phänomenologisch: Männerbünde, Studentenverbindungen, Cliquen, Gangs etc.). Aber sie orientieren sich auch an Vorbildern. Diese sind selbst meist gar nicht mehr so jung (wiewohl sie sich jugendlich geben können). Jugendliche sind anfällig für Dämagogen und Rattenfänger aller Art, Führergestalten, Hassprediger und Ideologen, von Mao und Che Guevara (die man nicht wirklich verstand) bis zu religiösen Anführern. Einzig die Hippie-Bewegung kam ohne eigentliche Vorbildfigur aus;  Elvis, Beatles, Dylan wurden verehrt; als role models taugten sie nur bedingt. 


3. Das höhere Ziel

Für das "Kalifat" in den Dschihad ziehen, fürs Vaterland in den Weltkrieg. Was für Friedensverwöhnte als uneinschätzbares Risiko und Spiel mit dem Feuer erscheint, kann dem Jugendlichen "Sinn" verleihen oder vorgaukeln. 

Man wird - zwischen Selbststabilisierung und Grössenwahn oszillierend- Teil eines Grösseren, verfolgt ein höheres Ziel. Nicht immer muss dieses martialisch sein. "The Age of Aquarius" war ausgesprochen friedfertig. Aber etwas Missionarisches und Plakatives ("make love, not war!" / "Atomkraft, nein, Danke!") haftet all diesen  Idealen an. Sie machen nur Sinn als expansives Gemeinschaftserlebnis und das heisst: als Gesellschaftsutopie.  Die Vorstellungen einer besseren Welt sind derart idealisiert, dass sie bisweilen blind machen für bisherige Umsetzungsversuche (siehe etwa die z.T. unkritische Haltung vieler 68er dem Sowjetregime gegenüber).


4. Jugendliche Ungeduld.

Radikalität äussert sich als Ungeduld. Verständnislosigkeit gegenüber geschichtlicher Kontinuität und organischer Entwicklung führt zur "Alles! Hier und jetzt!"-Mentalität, welche sich hinter den kämpferischen Begriffen der Rebellion und Revolution nur schlecht kaschiert.  



5. Das Rauschhafte

Grenzerfahrungen sind Selbsterfahrungen. Das Selbst spürt sich an seinen Grenzen und erweitert sich bei der Grenzüberschreitung. Die Ambivalenz zwischen Selbstverlust und Selbstfindung wird rauschhaft erfahren und umgekehrt mischen äusserlich herbeigeführte Rauschzustände (religiöse Trance, Drogen, Extremsportarten, Blutrausch) die Karten der eigenen Identität neu. Ob zum Guten oder zum Schlechten kann von aussen schwer eingeschätzt werden. Und gänzlich unmöglich  ist diese Reflexion dem  sich im Rausch - d.h. in der vorübergehenden Umstrukturierung - befindenden Selbst. Erst im Nachhinein, in den Nachwehen des Rausches,  dem "Kater" der Selbstfindung wird sich zeigen, was gewonnen und was verloren wurde.


6. Destruktivität und/oder Ernüchterung

Denn auffällig ist auch das all diesen Massen-Jugend-Bewegungen inhärente destruktive Potential. In unterschiedlichem Masse, gewiss. Schon die Sprache entlarvt den Inhalt. Zwischen  Kriegsrhetorik, Rassenwahn und "Peace & Love"-Aufrufe im Flower Power liegen Welten. Aber sogar die Hippiekultur kennt ihre Märtyrer. Sie fielen nicht bei irgendwelchen Schlachten, sie versanken in der Drogenhölle: Joplin, Hendrix, Morrison.
Es ist das Erschrecken über die dunkle Seite seines Selbstfindungsprojektes, das Erkennen der destruktiven Anteile, das den Jugendlichen aus dem Rauschzustand erwachen lässt. Manch ein Dschihadist tritt verstört den Heimweg an. Mancher Marxist  gab enttäuscht das Politisieren auf.
Die Ernüchterung tritt ein als Differenz zwischen dem Ideal und der Realität. Aus antikapitalistischen Revoluzzern wurden Unternehmer, aus Hausbesetzern Villenbesitzer in der Toscana.



Fazit


Es soll hier nicht der Eindruck entstehen, ich werfe alle Jugendbewegungen in den selben Topf. Kerouac zu lesen und mit einer Rock'n'Roll Band durchs Land zu ziehen ist nicht dasselbe wie Anleitungen zum Bombenbau studieren und sich einer Terroristenbande anzuschliessen. Die Inhalte und Ziele unterscheiden sich. Zum Teil wie Tag und Nacht. 


Doch die vorgestellten strukturellen Ähnlichkeiten weisen auf - dem Jugendalter eigentümliche- Bedürfnisse hin, die sich in der aktuellen Debatte um die Radikalisierung junger Muslime zu bedenken lohnte. Und die nebst den nötigen sozial- und sicherheitspolitischen Massnahmen auch  psychologische und präventive Aspekte in die Diskussion einbringen sollten.










1)


(Niemand hat die Gräuel des Krieges treffender wider gegeben als Georg Trakl in seinem Gedicht "Grodek".  Trakl (1887-1914) wurde als gelernter Apotheker zur Sanität eingezogen und starb wenige Monate nach Kriegsausbruch durch eine -vielleicht bewusst herbeigeführte- Überdosis.  Es "Umfängt die Nacht / Sterbende Krieger, die wilde Klage / Ihrer zerbrochenen Münder". In diese Dunkelheit versinkt die hehre Idee des Abendlandes.)







Bruno Amatruda unterrichtet Religion am Gymnasium.





 


Freitag, 23. Mai 2014

Rabbi Moischele und der Solipsist





Einst kam ein junger Mann ganz aufgewühlt zu Rabbi Moischele. "Rabbi, wie kann ich wissen, ob alles, was ich erlebe, real ist? Ich habe fürchterliche Angst, dass alles nur meiner Phantasie entspringt", klagte der junge Mann.

"Aha", meinte der Rabbi, "ein typischer Fall von Solipsismus." - "Solipsismus? Können Sie etwas dagegen tun?" fragte der junge Mann nervös. - "Das ist einfach, mein Junge", sprach der Rabbi, "wenn alles deiner Vorstellung entspringt, dann weisst du auch, was ich jetzt dagegen tun werde. Weisst du es aber nicht, dann bist du nicht in deiner Vorstellung, sondern in der Wirklichkeit."
Der junge Mann entgegnete besorgt: "Aber es könnte sein, dass ich mir nur vorstelle, dass ich nicht weiss, was Sie jetzt tun werden!"   Rabbi Moischele runzelte die Stirn und murmelte: "Dieser Solipsismus ist schon weit fortgeschritten. Das hilft nur eine Wurzelbehandlung." 

Er setzte den jungen Mann auf einen Stuhl, hiess ihn den Mund aufreissen, nahm eine Zange und zog ihm einen Backenzahn. Der junge Mann schrie vor Schmerz. "Denkst du immer noch, dass du dir alles nur einbildest?" Der junge Mann hielt sich die Wange und schüttelte den Kopf.

Die Schmerzen begleiteten den jungen Mann noch einige Tage und mit ihnen auch der erlösende Gedanke, dass seine solipsistischen Ängste nun widerlegt worden seien.


Zwei Wochen später erschien der junge Mann wieder beim Rabbi. "Ich hab dich schon erwartet, mein Junge", sprach Rabbi Moischele und hielt dabei eine Zange in der Hand. "Du fragst dich mittlerweile, ob dein letzter Besuch nur erdacht war und deine Schmerzen selbst erfunden. Ich ziehe dir heute einen zweiten Zahn."  -  "Nein! Ich will das nicht", entgegnete der junge Mann, "ich will nur endlich wissen, dass nicht alles nur ein Traum ist!" - "Wenn ich dir sämtliche Zähne gezogen habe, wirst du aus deinem Traum erwachen", sprach der Rabbi. Der junge Mann überlegte lange und meinte dann: "Das ist mir zu blöd", woraufhin er grusslos das Haus des Rabbis verliess.


Der junge Mann wurde später ein erfolgreicher Zahnarzt. Manchmal, wenn er einem Patienten einen Zahn zieht, denkt er an Rabbi Moischele. Er kann zwar bis heute nicht mit Bestimmtheit sagen, ob sich alles nur in seinem Kopf abspielt, aber es interessiert ihn mittlerweile auch nicht wirklich.


(aus: "Die erfundenen Geschichten des Rabbis Moischele")

Samstag, 1. Februar 2014

Eine Maturarbeit an der Kantonsschule Rychenberg fragt:









Was macht Kirche für Jugendliche attraktiv?



Eine Untersuchung der Erfolgsfaktoren von Freikirchen und reformierter Landeskirche


Verfasst von:
Sarah Muffler 6eG

Betreuer: Bruno Amatruda
Zweitbeurteilung: Sandra Piccioni Stalder


Inhalt

1                  Einleitung – Motivation  3
2                  Begriffserklärungen  4
2.1            Freikirche  4
2.2            Landeskirche  4
3                  Der aktuelle Stand  5
4                  Religiosität in der Schweiz  8
4.1            Die vier Religiositätsprofile  8
4.2            Religiosität der Schweizer 9
4.3            Religiosität jugendlicher Schweizer 11
5                  Erfolgsfakoren einer  Kirche  12
5.1            Unterschiede zwischen der reformierten Landeskirche und Freikirchen  12
5.2            Auswertung der Umfrage  14
5.2.1       Prediger 14
5.2.2       Inhalt 16
5.2.3       Form    18
5.2.4       Werbung  20
5.2.5       Die Gemeinschaft 21
5.2.6       Finanzen  22
5.3            Fazit 23
6                  Die Reaktion der reformierten Landeskirche auf den Mitgliederschwund  25
6.1            Projekt „Streetchurch“ 25
6.2            Die Reaktion der landeskirchlichen Pfarrer 26
6.3            Fazit 28
7                  Schlusswort 30
8                  Literaturverzeichnis




Was macht Kirchen für Jugendliche attraktiv?
Eine Untersuchung der Erfolgsfaktoren von Freikirchen und reformierter Landeskirche
Verfasst von:
Sarah Muffler 6eG Betreuer: Bruno Amatruda
Zweitbeurteilung: Sandra Piccioni Stalder 3. Dezember 2013Inhalt
1 2
3 4
5
6
7 8 9
Einleitung – Motivation .................................................................................................... 3
Begriffserklärungen .......................................................................................................... 4 2.1 Freikirche.................................................................................................................... 4 2.2 Landeskirche ............................................................................................................. 4
Der aktuelle Stand............................................................................................................ 5
Religiosität in der Schweiz .............................................................................................. 8 4.1 Die vier Religiositätsprofile ...................................................................................... 8 4.2 Religiosität der Schweizer ....................................................................................... 9 4.3 Religiosität jugendlicher Schweizer ..................................................................... 11
Erfolgsfakoreneiner Kirche.........................................................................................12 5.1 Unterschiede zwischen der reformierten Landeskirche und Freikirchen ....... 12 5.2 Auswertung der Umfrage ....................................................................................... 14
5.2.1 5.2.2 5.2.3 5.2.4 5.2.5 5.2.6
Prediger ............................................................................................................. 14 Inhalt .................................................................................................................. 16 Form................................................................................................................... 18 Werbung............................................................................................................ 20 Die Gemeinschaft ............................................................................................ 21 Finanzen ........................................................................................................... 22
5.3 Fazit........................................................................................................................... 23 Die Reaktion der reformierten Landeskirche auf den Mitgliederschwund............. 25 6.1 Projekt „Streetchurch“ ............................................................................................ 25 6.2 Die Reaktion der landeskirchlichen Pfarrer ........................................................ 26 6.3 Fazit........................................................................................................................... 28 Schlusswort ..................................................................................................................... 30 Literaturverzeichnis ........................................................................................................ 31 Anhang............................................................................................................................. 33
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1 Einleitung – Motivation
Als ich mit 15 Jahren an einem typischen Sonntagmorgen um zehn Uhr in unsere reformierte Landeskirche gehen „musste“, um die für die Konfirmation obligatorische Anzahl Gottesdienste zu besuchen, wusste ich schon im Voraus, welche Leute ich dort antreffen werde. Die Mehrheit der Kirchenbesucher war im Alter meiner Grosseltern. In den hintersten Reihen waren stets ein paar schlecht gelaunte Konfirmanden gedrückt. Hat der Pfarrer gepredigt, dösen sie meist noch ein wenig weiter, und auch wenn die Kirchgänger zum Orgelspiel sangen, hörte man aus den hintersten Reihen keinen Ton. Gleichaltrige, die gerne in die Kirche gehen, kannte ich lange gar keine.
Umso erstaunter war ich, als mir eine Schulkameradin von ihrer Freikirche vor- schwärmte, welche sie oft und freiwillig besuchte. Über die Jahre im Rychenberg lernte ich viele Mitglieder von Freikirchen kennen. Alle besuchten ihre Kirche regel- mässig und mit Begeisterung.
Überrascht war ich deshalb nicht, als ich nachlesen konnte, dass die Landeskirche an Mitgliedern verliert, während die Freikirchen in der Schweiz tendenziell leicht steigende Mitgliederzahlen vorweisen können.
Doch was ist der Grund für diese gegensätzlichen Entwicklungen? Worauf kommt es an, was braucht eine Kirche, um Mitglieder zu gewinnen und zu begeistern und alte zu behalten? Was unterscheidet die Freikirchen von der Landeskirche? Was macht deren Erfolg, bzw. Scheitern aus? Was unternimmt die Landeskirche gegen den Mitgliederschwund? Was spricht Jugendliche an, was hält sie fern?
Diese Fragen werde ich in meiner Maturarbeit unter anderem anhand einer selbst durchgeführten Umfrage beantworten.
3
2 Begriffserklärungen
2.1 Freikirche
„Anders als Landeskirchen sind sie [die Freikirchen] frei von irgendwelchen organisatorischen Verbindungen mit dem Staat, in der Schweiz mit dem jeweiligen Kanton. Ihre Mitglieder werden – zumindest in der Theorie – nicht wie in den Volks- kirchen sozusagen in die Gemeinden hineingeboren. Sie treten ihrer Kirche durch einen freien Entschluss bei.“1
Freikirchen sind „Kirchen und Gemeinschaften, die aus dem Bemühen um die Erneuerung urchristlichen Gemeindelebens entstanden sind.“2
In meiner Umfrage konzentriere ich mich auf erfolgreiche Freikirchen, also auf die- jenigen mit steigenden oder mindestens gleichbleibenden Mitgliederzahlen.
2.2 Landeskirche
Landeskirche ist der „
1 Schmid, Georg und Schmid, Georg Otto (2003): Kirchen, Sekten, Religionen, 7. Überarbeitet und ergänzte Auflage. Theologischer Verlag Zürich. S. 79.
2 Krech, Hans und Kleiminger, Matthias (2006): Handbuch religiöse Gemeinschaften und Weltanschauungen, 6.Überarbeitete und erweiterte Auflage. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt. S. 57.
3 Reformierte Landeskirche Aargau (2009): Begriffe und Definitionen. http://www.ref-ag.ch/informationen-medien/begriffe_definitionen.php (30.8.2013).
rechtliche Begriff für den Status einer öffentlich-rechtlich
anerkannten Kirche, die demokratisch verfasst und öffentlich über ihre Finanzen
Rechenschaft ablegen muss.“3 Die Landeskirche hat, anders als die Freikirche, das
Recht, Steuern von ihren Mitgliedern einzuziehen.
In meiner Maturarbeit gehe ich lediglich auf die evangelische Landeskirche ein, da ihr
Mitgliederschwund grösser ist als bei der katholischen Kirche, andererseits weil die
Freikirchen ebenfalls evangelisch geprägt sind.
4
3 Der aktuelle Stand
1970 gehörten 64.5 % der schweizerischen Bevölkerung der reformierten Landes- kirche an. Im Jahre 2000 machten die Reformierten noch 33 % aus.4 Ginge diese Entwicklung so weiter, dann wäre 2040 nur noch jeder Fünfte reformiert.5
Ausserdem schrumpft nicht nur die Anzahl der Mitglieder massiv, sondern auch deren Interesse: Nur 10 % sind regelmässige Kirchgänger, und über die Hälfte gehört zur älteren Generation der über Siebzigjährigen.6
Obwohl bloss 2 % der Schweizer einer Freikirche angehören, verkörpern sie 29 % der Kirchgänger in der Schweiz, welche an einem Sonntag zur Kirche gehen. Die Reformierten hingegen, welche zahlenmässig 15-fach überlegen sind, machen nur 14 % aus.7
Abbildung 3.1: Konfessionsangehörigkeit Abbildung 3.2: Kirchgänger am Sonntag
Trotz leicht steigender Mitgliederanzahl der Freikirchen sind nicht alle erfolgreich. Manche verlieren Mitglieder, andere stagnieren und wiederum andere können ihre
4 Baumann, Martin (2012): Zahlen – Rückgang kirchlicher Zugehörigkeit. http://www.religionenschweiz.ch/christentum.html (8.10.2013).
5Vgl.: SRDRS (2010): Reformierte Kirche kämpft gegen Mitgliederschwund. http://drs.srf.ch/www/de/drs/nachrichten/schweiz/182840.reformierte-kirche-kaempft-gegen- mitgliederschwund.html (8.10.2013)
6 Ebd. 7 Ebd.
5
Mitgliederzahl teilweise massiv erhöhen. Letztere sind mehrheitlich charismatische Gemeinschaften wie beispielsweise ICF, während traditionellere Freikirchen die Verlierer sind.
Abbildung 3.3: Veränderung religiöser Zugehörigkeiten in der Schweiz, 1970 bis 20108
In der Abbildung 3.3 sieht man die Veränderungen der Religionszugehörigkeit von 1970 bis 2010 sehr deutlich. Weil die reformierte und katholische Kirche nicht separiert sind, sei erwähnt, dass der Mitgliederschwund gemäss Stolz9 vor allem bei der reformierten Kirche besteht. Dass die Mitgliederzahl der katholischen Kirche konstanter bleibt, liegt vor allem an der Immigration: Viele Immigranten sind Spanier, Italiener oder Portugiesen, welche katholisch sind.10
Im Sinne eines kurzen Exkurses möchte ich auf einige Faktoren eingehen, welche den Mitgliederschwund beider Landeskirchen begünstigen, obwohl der Fokus meiner Maturarbeit auf der Landeskirche im Vergleich zu den Freikirchen liegt.
8 Grafik: Religionen in der Schweiz (2012): http://www.religionenschweiz.ch/projekt.htmlekt.html (9.10.13). nach: Bovay, Claude (2004): Religionslandschaft in der Schweiz. Eidgenössische Volkszählung 2000, im Auftrag des Bundesamtes für Statistik, Neuchâtel.
9 Vgl.: Stolz, Jörg (2009): Interview Sternstunde Religion: Religionen in der Schweiz: Fakten und Trends. http://www.srf.ch/player/tv/sternstunde-religion/video/religionen-in-der-schweiz-fakten-und- trends?id=91c3ca83-981b-4e46-bd53-07f5e221fbfe (9.10.13).
10 Ebd.
6
Von wesentlicher Bedeutung für den Mitgliederschwund der Landeskirchen ist die Säkularisierung, worunter die „abnehmende Bedeutung der Religion auf gesellschaft- licher und individueller Ebene“11 verstanden wird.
Der erste Säkularisierungsschub fand im 16. Jahrhundert durch die Reformation statt. Mit dieser wurde der absolute Machtanspruch der katholischen Kirche unter- bunden.12
Der zweite Säkularisierungsschub setzte in der Schweiz im 19. Jahrhundert aufgrund der Französischen Revolution ein. 1848 setzten die radikalen Liberalen den modernen Bundesstaat durch. Auch wurde Religions- und Pressefreiheit eingeführt, trotz Widerstand der Religiös-Konservativen.13
Religion wird heute nicht mehr so eng mit der Kirche verknüpft wie früher. Der Glaube wurde und wird stets intensiver privatisiert und individualisiert, was die Kirchen vor grosse Herausforderungen stellt.
Dazu erhielt die Kirche vermehrt säkulare Konkurrenz:14 Wurden Krankenhäuser früher von Kirchen geführt, sind unsere heutigen Spitäler säkulare Institutionen. Auch die Aufgaben des Psychologen oder Therapeuten übernahmen früher die Pfarrer. Während Pfarrpersonen früher zugleich Lehrer waren, bildet diese Doppelfunktion heute die Ausnahme. Ausserdem können inzwischen viele Fragen wissenschaftlich beantwortet und mit Fakten belegt werden, welche früher nur religiös interpretiert werden konnten.
11 Stolz, Jörg et al. (2011): Die Religiosität der Christen in der Schweiz und die Bedeutung der Kirchen in der heutigen Gesellschaft. Schweizerischer Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung, NFP 58, Themenheft IV. S. 10.
12 Vgl.: Hafner, Urs (2007): Wenn Gott verdampft. Die Wochenzeitung, 18.1.2007. http://www.woz.ch/0703/glaube-und-gesellschaft/wenn-gott-verdampft (12.10.2013).
13 Ebd. 14 Stolz, NFP 85. S. 8f.
7
4 Religiosität in der Schweiz
4.1 Die vier Religiositätsprofile
Die folgenden Ausführungen basieren auf den vier Religiositätsprofilen gemäss NFP 58:15 Distanziert, säkular, alternativ und institutionell.
Die Distanzierten
Die distanzierten Christen glauben zwar Gott, nehmen jedoch weder aktiv am Gemeindeleben noch am sonntäglichen Gottesdienst teil.16 Die meisten Distanzierten sind nur an wichtigen Anlässen wie Hochzeiten, Beerdigungen oder Taufen oder an wichtigen Feiertagen wie Ostern oder Weihnachten in der Kirche anzutreffen. Der Glaube ist in ihrem Leben von geringer Bedeutung.
Die Säkularen
Säkulare Menschen glauben weder an Gott, noch praktizieren sie demnach Religion. Die Säkularen lassen sich in zwei Gruppen teilen: Religionsgegner und Indifferente.
Religionsgegner sind nicht nur nicht gläubig, sondern vertreten gar die Meinung, dass Glaube und Religion mehr Schlechtes als Gutes hervorbringen. Ihre Argumente stützen sie dabei zum Beispiel auf Religionskriegen ab.
Die Indifferenten glauben ebenfalls nicht an die Existenz Gottes oder an ein Leben nach dem Tod. Sie sind aber im Gegensatz zu den Religionsgegnern oft nicht einmal konfessionslos. Indifferente sind beispielsweise auch nicht abgeneigt, ihre Kinder zu taufen. Sie entscheiden sich aber dafür, weil es Tradition in ihrer Familie ist oder damit sich ihr Kind nicht ausgeschlossen fühlt, und nicht, weil sie dem Ritual religiöse
15 Kapitel basierend auf: Stolz, NFP 58. S. 12-21.
16 Vgl.: Kretzschmar, Gerald (2001): Distanzierte Kirchlichkeit – Eine Analyse ihrer Wahrnehmung. Neukirchener Verlagsgesellschaft. S. 17.
8
Bedeutung beimessen. Sie sind keine Gegner der Kirche oder der Religionen, nur haben sie keinen Stellenwert in ihrem Leben.
Die Alternativen
Die Alternativen beschäftigen sich hauptsächlich mit esoterischen und holistischen Praktiken, wie zum Beispiel mit Hellsehen, Hypnose, Meditation oder Kinesiologie. Deshalb spricht man bei ihnen auch von Spiritualität anstelle von Religion.
Die Institutionellen
Die regelmässigen Kirchgänger findet man unter den Institutionellen. Ihr Glaube und die religiöse Praxis haben in ihrem Leben einen ausserordentlich hohen Stellenwert. Sie sind oft aktive Mitglieder der Kirche. Die Institutionellen haben die konservativste Einstellung der vier Religiositätsgruppen, vor allem in Bezug auf Sexualität und Familie.
4.2 Religiosität der Schweizer
Die Mehrheit der Gruppe der Distanzierten vertritt die Auffassung, dass die Landeskirchen wichtig für unsere Gesellschaft sind, insbesondere für Menschen der unteren sozialen Schicht. Trotzdem hat die Anzahl Säkularer und Distanzierter in den letzten zehn Jahren massiv zugenommen und nimmt auch weiter zu, während die Gruppe der Institutionellen immer mehr schrumpft – die Religiosität in der Schweiz nimmt ab.
Über die Hälfte aller Schweizer gehört dem Religiositätsprofil der Distanzierten an – sie machen 64 % der Bevölkerung aus.17 Die Gruppe der Alternativen ist über die Jahre hinweg stets ungefähr gleich geblieben und ist mit 9 % die kleinste Gruppe.
17 Stand: November 2011
9
Unwesentlich grösser ist die Gruppe der Säkularen mit 10 % der Schweizer Bevölkerung, Tendenz steigend zulasten der Institutionellen mit gegenwärtig 17 %.
Abbildung 4.1: Die Religiositätsprofile nach Konfession18
In obiger Abbildung sehen wir die Religiositätsprofile eingeteilt nach Konfession. Ich werde im Rahmen meiner Maturarbeit nur auf die Konfessionen „reformiert“ und „freikirchlich“ eingehen.
Ins Auge sticht der dominante Anteil institutioneller Mitglieder der Freikirche von 85 %. In der Freikirche sind die meisten Mitglieder sehr aktiv, viele von ihnen haben eine feste Aufgabe, wie beispielsweise den Kinderclub leiten. Andere sind für die technischen Belange während des Gottesdienstes zuständig, und wiederum andere sind Teil einer Musikgruppe, welche bei den Gottesdiensten auftritt, oder unter- stützen soziale Projekte. Ebenfalls auffällig ist, dass es keine säkularen und keine alternativen Mitglieder gibt. Nur 15 % der Freikirche sind den Distanzierten zu- zuordnen.
In der reformierten Landeskirche zeigt sich ein konträres Bild: Die Institutionellen machen bloss 15 % der Mitglieder aus, dafür sind 70 % distanziert und 7 % säkular.
Der Unterschied zwischen den Religiositätsprofilen bei Männern und Frauen ist sehr gering. Einzig bei den Religiositätsprofilen Alternative und Säkulare sind deutlich
18 Stolz, NFP 58. S. 12.
10
erkennbar: Es gibt dreimal so viele alternative Frauen wie Männer, bei den Säkularen hingegen beträgt der Anteil der Frauen bloss ein Viertel.
4.3 Religiosität jugendlicher Schweizer
Da es keine Studie zu den Religiositätsprofilen gibt, welche spezifisch auf Jugend- liche von 13 bis 19 Jahren ausgerichtet ist, handelt es sich bei den folgenden Aus- führungen um meine persönliche Einschätzung:
Bei den Freikirchen gibt es zwischen Jugendlichen und Erwachsenen keine gravierenden Unterschiede bei den Religiositätsprofilen. Die Zahl der jugendlichen Institutionellen dürfte sehr hoch sein, da es für freikirchliche Teenager ausser- ordentlich viele Freizeitangebote gibt sowie Gottesdienste speziell für Jugendliche (wie „T-church“ und „mychurch“ von der Freikirche GvC). Ausserdem haben die Jugendlichen in Freikirchen sehr oft einen Grossteil ihres Freundeskreises dort, was den Kirchenbesuch zusätzlich attraktiv macht.
Von den Jugendlichen der Landeskirche dürfte der Anteil Institutioneller noch viel tiefer liegen als bei den Erwachsenen, ebenfalls die Zahl der Alternativen. Folglich müssten die Prozentzahlen der Distanzierten und Säkularen höher sein.
Die Umfrage, welche ich mit Jugendlichen beider Kirchen durchgeführt habe, stützt meine Vermutung: 70 % der befragten Landeskirchenmitglieder gaben an, gar nie oder nur bei speziellen Anlässen wie Hochzeiten, Taufen oder Weihnachten die Kirche zu besuchen. Die Befragung der Freikirchenmitglieder zeigte das gegenteilige Bild: 70 % gehen mindestens einmal pro Woche zur Kirche.
Dazu sei bemerkt, dass einige der befragten Jugendlichen der Landeskirche Konfirmanden sind und daher „Zettelchen abgeben“ oder „Punkte sammeln“ müssen, um überhaupt konfirmiert zu werden. Der Anteil freiwilliger Kirchgänger dürfte bei den jugendlichen Mitgliedern der Landeskirche noch deutlich tiefer liegen.
11
5 Erfolgsfakoren einer Kirche
5.1 Unterschiede zwischen der reformierten Landeskirche und Freikirchen
Durch Gespräche mit jugendlichen Mitgliedern und Ex-Mitgliedern von Freikirchen und evangelischen Landeskirchen sowie durch Besuche von Gottesdiensten beider Kirchen bin ich zum Schluss gekommen, die Attraktivität einer Kirche in sechs Faktoren zu unterteilen:
Prediger Inhalt Form Werbung Gemeinschaft Finanzen
Diese Faktoren sind ausschlaggebend, ob eine Kirche Erfolg bei Jugendlichen hat.
Den Faktor Familie habe ich bewusst weggelassen. Die Familie ist zwar in den meisten Fällen entscheidend, in welcher Kirche man aufwächst. Sie hat jedoch weniger Einfluss darauf, ob man in einer Kirche bleibt oder austritt. Besonders in der Pubertät hinterfragen Jugendliche das Handeln von Autoritätspersonen und bilden sich ihre eigene Meinung. Diese Entscheidung wird deshalb unabhängig von den Eltern getroffen.
Die sechs Faktoren sind gleichzeitig die Unterschiede beider Kirchen, welche ich am deutlichsten wahrgenommen hatte, als ich einen „Worship“ für Jugendliche der GvC Chile Hegi und einen traditionellen Gottesdienst in meiner Gemeinde besuchte:
Der ca. 25-jährige Prediger in der Freikirche sprach schweizerdeutsch, mit einem jugendlichen Wortschatz. Auch an englischen Ausdrücken, wie sie Jugendliche im Alltag benutzen, fehlte es nicht. Die Begeisterung, mit welcher er uns von Jesus und von seinen persönlichen Erlebnissen erzählte, war eindrücklich. Die Pfarrer der
12
Landeskirche predigten allgemein ruhiger, langsamer und manche sogar etwas monoton.
In konservativen Freikirchen dürfen ausserdem nur Männer predigen. Grund dafür sind folgende Bibelstellen:
„Eure Frauen sollen in den Gemeinden schweigen, denn es ist ihnen nicht gestattet zu reden, sondern sie sollen sich unterordnen [...] denn es ist für Frauen schändlich, in der Gemeinde zu reden.“19
„Aber ich gestatte einer Frau nicht zu lehren, auch nicht, dass sie über den Mann herrscht, sondern sie soll sich still verhalten.“20
Während die landeskirchlichen Pfarrer Theologie studiert haben müssen, sind bei Freikirchen oft Laienprediger unterwegs. Ihre theologische Ausbildung beschränkt sich auf freikirchliche Seminare.
Auch beim Inhalt des Gottesdienstes sind eklatante Differenzen vorhanden. Vor allem bei Gesprächen und Diskussionen über Gott und die Bibel mit beiden Kirchgängern werden sie deutlich. Während in der evangelischen Landeskirche die Bibel viel symbolischer gepredigt wird, nimmt man sie in der Freikirche wörtlicher. Das bedeutet, dass die Prediger in der Freikirche ihre Predigt streng auf der Bibel abstützen, die Pfarrer der Landeskirche aber die Bibel unserer Zeit angepasst interpretieren. In Freikirchen wird die Bibel als Wort Gottes extrem vorsichtig bis gar nicht hinterfragt. Die Predigten der landeskirchlichen Pfarrer lässt sehr viel mehr Fragen offen als die der freikirchlichen Prediger.
Auch die Werbung der beiden Kirchen sieht sehr anders aus. Während man am Bahnhof oder im Briefkasten von Zeit zu Zeit einen bunten Flyer von ICF findet, welcher für eine Benefiz-Veranstaltung oder für eine „Celebration“ wirbt, fällt die Werbung von Anlässen der Landeskirche recht karg aus. Hie und da gibt es eine kleine Anzeige im Dorfblatt. Besucht man die Websites der Freikirchen, so sind sie voller Fotos und Videos von vergangenen Projekten und Worships und Werbung für anstehende Veranstaltungen. Websites von reformierten Landeskirchen fallen viel
19 Bibel: 1. Korinther 14, 34-35. 20 Bibel: 1. Timotheus 2, 12-14.
13
formeller aus. Auch legen manche Freikirchen hohen Wert auf das Missionieren, was ihnen ebenfalls einige neue Mitglieder und somit Erfolg verschafft.
Um herauszufinden, welche Faktoren für eine Kirche entscheidend sind, damit sie Jugendliche anzieht, beziehungswiese beibehält, habe ich eine ausführliche Online- Umfrage durchgeführt. 93 Personen zwischen 13 und 19 Jahren nahmen teil. 25 der 93 Teilnehmer waren Mitglieder einer Freikirche, 59 Personen Mitglieder einer reformierten Landeskirche und je 5 Ex-Mitglieder einer Frei- oder Landeskirche. Die Umfrage beinhaltete 17 Fragen, welche mir 1‘246 Antworten einbrachten. Eine originaltreue Wiedergabe der Antworten ist mir sehr wichtig, deshalb habe ich paradoxe sowie unfertige Sätze übernommen, orthografische Fehler jedoch ver- bessert.
5.2 Auswertung der Umfrage
5.2.1 Prediger
Auf die Frage, wie wichtig auf einer Skala von 1 bis 10 es den Teilnehmern ist, dass ihr Prediger mitreissend erzählt, auf sie eingeht, sympathisch und überzeigend ist, haben sich 80 % für 7 bis 10 entschieden, also dass es ihnen wichtig bis extrem wichtig sei.
Abbildung 5.2.1: „Wie wichtig ist es Ihnen, dass Ihr Prediger mitreissend erzählt, auf Sie eingeht, sympathisch und überzeugend ist?“
1 = unwichtig 10 = extrem wichtig
Bei den Landes- und Freikirchlern gibt es bei dieser
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Frage keine merklichen Unterschiede. Einen überzeugenden, sympathischen Pfarrer zu haben, stufen beide als wichtig ein.
Die Mitglieder der Freikirchen haben deutlich weniger bis gar nichts an ihren Predigern zu bemängeln. Die einzige Schwachstelle sei, dass manche zu wenig über schwierige Themen predigen. Gelobt werden ihre Offenheit, ihr Humor und die spürbare Begeisterung des Predigers für das Thema. Ebenfalls schätzen sie die Vergleiche mit aktuellen Themen sowie Erfahrungen aus dem eigenen Leben des Predigers. Er rede nicht „von oben herab“ auf die Zuhörer ein, sondern stelle sich auf dieselbe Stufe wie seine Zuhörer.
Bei den Landeskirchenmitgliedern hört man deutlich mehr Unzufriedenheit aus den Antworten heraus. Nur wenige scheinen angesichts der Antworten so zufrieden mit ihren Pfarrer zu sein wie die Mitglieder der Freikirchen mit ihren Predigern. Die Pfarrer der Landeskirche würden ihre Predigt schlicht zu langweilig für Jugendliche gestalten. Als Grund wurden die Vernachlässigung aktueller Themen sowie die Monotonie und die Humorlosigkeit der Predigt angegeben. Mehrfach kritisierten die Teilnehmer auch die fehlenden Alltagsbeispiele.
Die Beurteilung der verschiedenen Pfarrpersonen hätte bei der Landeskirche nicht unterschiedlicher sein können. Manche Mitglieder der Landeskirche bemängeln die Trockenheit und Unpersönlichkeit der Gottesdienste, andere wiederum schätzen, dass ihr Pfarrer auf die Kirchgänger eingeht.
Verschiedene Pfarrer der Landeskirche predigen folglich sehr unterschiedlich, wobei die Vorlieben ihrer Kirchgänger etwa dieselben sind. Bei Predigern verschiedener Freikirchen scheint dies nicht der Fall zu sein. Gemäss der Umfrage sind die Mit- glieder der Freikirchen zufriedener mit ihren Predigern als die Mitglieder der evangelischen Landeskirche.
Die Bedeutung eines ansprechenden, sympathischen Pfarrers für jugendliche Kirch- gänger ist nicht zu unterschätzen. Die Jugend ist die Zeit, in welcher der Mensch extrem viele Veränderungen durchmacht. Viele Fragen stellen sich, und es herrscht Unsicherheit. Für Jugendliche ist in dieser oft stressigen Zeit eine erwachsene, verlässliche Vertrauensperson, mit welcher sie über Probleme Zuhause, am
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Arbeitsplatz oder in der Schule sprechen können, sehr wichtig.21 Diesen Part können Familienmitglieder, Nachbarn oder Freunde übernehmen, häufig werden aber auch Lehrer oder eben Pfarrer zur Bezugsperson. Deshalb ist für Teenager ein sympathischer Pfarrer sehr wertvoll.
5.2.2 Inhalt
Beim Inhalt eines Gottesdienstes kontrahieren die Meinungen der Frei- und Landeskirchenmitglieder stark. Die Streitfrage ist, ob sich der Prediger kritisch zur Bibel äussern soll. Bei den Freikirchenmitgliedern ist Kritik an der Bibel generell unerwünscht. Für 71 % ist die Kritik an der Bibel ein Tabu, so wie für dieses 19- jährige Mitglied einer Freikirche: „Er [der Prediger] muss die Bibel als Wahrheit an- sehen und wörtlich verstehen.“
Aber auch 75 % der Befürworter schränkten ihre Antwort ein. Kritisieren sei zwar er- laubt, jedoch eher unerwünscht. Der Prediger müsse sehr vorsichtig damit umgehen: „Gewisse Aspekte sind nicht wörtlich zu nehmen, aber die meisten schon.22
In der Landeskirche hingegen wird Kritik nicht nur geduldet, sondern von der Mehrheit ausdrücklich erwartet: Nur 7 % sind strikt gegen Kritik an der Bibel und bei 5 % wird sie nicht besonders gern gehört. 88 % wünscht ausdrücklich, dass der Pfarrer die Bibel hinterfragt. Dies ist bei vielen Teilnehmern die Voraussetzung, um einen Gottesdienst ernst nehmen zu können. Symbolische Predigten werden be- grüsst.
Bei der Vorstellung einer idealen Predigt gehen die Meinungen also weit auseinander. Während in den Freikirchen wörtliche Wiedergaben der Bibel Anklang finden, bevorzugt man in der Landeskirche symbolische Gottesdienste.
21 Meckel, Nina (2008): Dritte werden zur Vertrauensperson. Focus online, 12.5.2008. http://www.focus.de/schule/schule/tid-9940/schule-dritte-werden-zur-vertrauensperson_aid_301103.html (26.10.2008)
22 Gymnasiast, 15 Jahre, Mitglied einer Freikirche
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Die Mitglieder der Landeskirche möchten Predigten hören, die „zum Nachdenken an- regen23, während die Freikirchenmitglieder finden, dass „er [der Prediger] kompetent Antworten auf [...] Fragen geben kann [...].“24
Die Freikirche bietet ihren Mitgliedern ein festes Regelsystem und Antworten auf Lebensfragen. Besonders für Jugendliche, welche nach Antworten suchen, ist die Freikirche attraktiv. Fragen werden restlos beantwortet und einfache Regeln geben den Jugendlichen Struktur.
Die Landeskirche jedoch wirft Fragen auf und lädt zum Nachdenken ein. Jugend- liche, welche auf der Suche nach „der Wahrheit“ sind, wären in der Landeskirche überfordert. Die Predigt der Landeskirche ist weit anspruchsvoller. Man kann sich nicht an einer Richtlinie oder an Regeln festhalten.
Der Inhalt der Predigt wird von den Mitgliedern beider Kirchen gegenseitig kritisiert. Manche Freikirchenmitglieder meinen, dass reformierte Pfarrer zu lasch predigen oder sie keine überzeugten Christen sind, weil sie die Bibel nicht wörtlich ver- kündigen, sondern sie zeitgemäss interpretieren.
Bei Landeskirchenmitgliedern, aber auch Säkularen, stösst der Konservativismus vieler Freikirchen auf starke Kritik. Sehr heikle Themen sind Homosexualität und Geschlechtsverkehr vor der Ehe, über welche ich sehr hitzige Diskussionen zwischen Frei- und Landeskirchenmitglieder erlebte. Da die Freikirchen die Bibel wörtlich predigen, gibt es für viele von ihren Mitgliedern keinen Zweifel, dass Homosexualität eine Sünde ist. Dabei stützen sie sich auf folgende Bibelstellen:
"Wisst ihr nicht, dass Ungerechte das Königreich Gottes nicht erben werden? [...] Weder Hurer noch Götzendiener, noch Ehebrecher, noch Männer, die für unnatürliche Zwecke gehalten werden, noch Männer, die bei männlichen Personen liegen, [...] werden Gottes Königreich erben."25
23 Lernende Fachfrau Hauswirtschaft, 18 Jahre, Mitglied der ref. Landeskirche 24 Gymnasiast, 18 Jahre, Freikirchenmitglied 25 Bibel, 1. Korinther 6, 9
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„Wenn ein Mann mit einem anderen Mann geschlechtlich verkehrt, haben sich beide auf abscheuliche Weise vergangen. Sie müssen getötet werden; ihr Blut findet keinen Rächer.26
Reformierte Pfarrer, welche sich zum Thema geäussert haben, stellten jedoch die Nächstenliebe über alles: Schlechte Liebe gibt es nicht.
Der Unterschied zwischen Inhalt und Auslegung der Bibel der beiden Kirchen ist immens und löst heftige Diskussionen aus. Am Inhalt des Gottesdienstes sollte demnach bei beiden Kirchen nichts geändert werden. Die Kirchgänger sind vollends zufrieden mit dem, was in ihrer Kirche gepredigt wird.
5.2.3 Form
Abbildung 5.2.3: „Wie wichtig ist es Ihnen, dass es im Gottesdienst Musik gibt, die Sie anspricht?“
1 = unwichtig 10 = extrem wichtig
Die Form eines Gottesdienstes ist laut meiner Umfrage Landes- und Freikirchen- mitgliedern gleich wichtig. 71 % der Befragten haben den Faktor Musik und Atmos- phäre als wichtig bis extrem wichtig eingestuft, also auf der Skala von 1 bis 10 mit
26 Bibel, 3. Mose 20, 13
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der Wichtigkeit 7 bis 10 gewertet. Auch Abwechslung im Gottesdienst wurde von 80 % als mindestens wichtig eingestuft.
Mit der Form ihrer Gottesdienste sind jedoch nicht beide Kirchgänger zufrieden gestellt. Während bei den Freikirchen die moderne, mitreissende Musik mit ihren Bands und Lichteffekten und die ausgelassene, fröhliche und warme Stimmung gelobt wird, ärgern sich viele jugendliche Landeskirchengänger über die sie wenig ansprechenden Lieder, welche selten variieren. Auch beklagen sie die kalte Atmos- phäre. So sagt beispielsweise ein Mitglied der Landeskirche: „Ich finde, dass in der Kirche nie eine gute Atmosphäre herrscht. Ich fühle mich deshalb immer sehr unwohl in der Kirche. Die Musik trägt dazu bei. Man könnte auch ein wenig modernere Musik spielen, sodass auch junge Leute mehr Interesse hätten.27 Viele vertreten dieselbe Auffassung. Auch dieses Landeskirchenmitglied ärgert sich über „das ewige Still- sitzen [und] dass 'langweilige', alte Lieder gesungen werden, die kein Jugendlicher kennt.“28
Mit wenigen Ausnahmen loben die Freikirchenmitglieder all das am Gottesdienst der Freikirche, was den Jugendlichen in der Landeskirche fehlt: „Die Musik ist modern und die Texte sprechen mich an. Meiner Meinung nach ist die Ausrüstung (Instru- mente etc.) aber nicht so wichtig, sondern die Atmosphäre.29 Oder: „Ich schätze die mitreissende Musik sehr!30
Die Umfrage zeigt: Freikirchengänger und Landeskirchengänger haben dieselben Ansprüche an Musik und Stimmung. Doch nur die Freikirchen erfüllen diese Wünsche ihrer jugendlichen Mitglieder.
27 Gymnasiast, 17 Jahre, Mitglied Landeskirche 28 Gymnasiast, 17 Jahre, Landeskirchenmitglied 29 Gymnasiast, 17 Jahre, Mitglied einer Freikirche und einer Landeskirche 30 Gymnasiast, 16 Jahre alt, Freikirchenmitglied
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5.2.4 Werbung
„Wie wichtig ist es Ihnen, dass Ihre Kirche über eine spannende Website verfügt, bei der Sie sich über das Programm informieren können, oder dass Flyers für anstehende Anlässe ausgeteilt werden?“
1 = unwichtig 10 = extrem wichtig
Abbildung 5.2.4 a: Bewertung Freikirche Abbildung 5.2.4 b: Bewertung Landeskirche
Die Abbildung 5.2.4 a stellt die Wertung der Bedeutung von Werbung und Websites von Freikirchenmitgliedern dar, Abbildung 5.2.4 b die Wertung von Mitgliedern der reformierten Landeskirche. Die beiden Abbildungen sind sehr ähnlich. Die Mehrheit der Befragten stufen Werbung als „unwichtig bis eher unwichtig“ (1-5) ein.
Obwohl viele Teilnehmer überzeugt sind, dass informative Websites und Flyer eher unwichtig sind, besteht die Wahrscheinlichkeit, dass Werbung durchaus einen grossen Einfluss auf sie ausübt. Denn häufig geben Freikirchen viel Geld aus für Plakate und Handzettel. Durch diese bleiben sie in den Gedächtnissen präsent.
Auch dass die Freikirchen Wert auf das Missionieren legen, scheint Teil ihres Erfolgs zu sein. Mitglieder „werben“ für ihre Freikirche, indem sie Freunde und Bekannte
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dazu ermutigen, zum Gottesdienst mitzukommen. Dazu missionieren vor allem charismatische Freikirchen bei Asylanten in der Schweiz.31
5.2.5 Die Gemeinschaft
Die Befragten der Landeskirche sind sich in diesem Punkt weniger einig als die der Freikirche: 67.5 % meinen, es würde „die Hemmschwelle senken in die Kirche zu gehen“32, wenn ihre Freunde mit ihnen die Kirche besuchen würden. Für manche ist es eine Voraussetzung: „Es gab Momente, in denen ich nicht zur Kirche ging, weil ich sonst allein hätte gehen müssen.“33 32.5 % wären, selbst wenn ihre Freunde mit zu Kirche kämen, nicht motiviert zum Kirchgang: „Meine Freunde gehen nicht und selbst wenn sie gehen würden, wäre das für mich kein Grund öfters zu gehen.“34
Alle befragten Freikirchenmitglieder stimmen überein, dass das Zusammentreffen mit Freunden bei Kirchgängen mitunter ein Grund für den Kirchbesuch sei. Obwohl es vielen nicht „primär darum geht, Freunde zu sehen.35 Andere jedoch bezeichnen es als „Hauptgrund“36 für Gottesdienstbesuche.
Die Psychologin Helga Gürtler bestätigt in einem Interview die Unerlässlichkeit von Freunden in der Jugendzeit und während der Pubertät: „[Es ist die] Entwicklungs- aufgabe der Pubertät, sich von der Elterngeneration zu lösen und eine eigene
31 Vgl.: Blumer, Claudia und Stamm, Hugo (2012): Evangelikale missionieren bei Asylsuchenden. Tagesanzeiger, 18.10.2012. http://www.tagesanzeiger.ch/schweiz/Evangelikale-missionieren-bei-Asylsuchenden/story/31092251 (14.10.2013)
32 16jähiger Gymnasiast, sporadischer Kirchgänger der Landeskirche 33 Lehrende Detailhandelsfachfrau, 17 Jahre, Landeskirchenmitglied 34 Gymnasiast, 16 Jahre, Landeskirchenmitglied 35 Gymnasiast, 18 Jahre, Freikirchenmitglied
36 Landschaftsgärtner, 17 Jahre, Mitglied einer Freikirche
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Identität zu entwickeln. Freunde sind dabei Gleichgesinnte, die zur Orientierung dienen. Allein kann man in diesem Alter noch nicht stehen.“37
Die Wichtigkeit sozialer Kontakte ist also während der Pubertät nicht zu unterschätzen. Besonders für Menschen, welche in der Schule oder am Arbeitsplatz soziale Probleme haben, kann das Integrieren in eine Gemeinschaft wie eine Freikirche eine Erleichterung sein. Sie können sich so ein soziales Umfeld mit Gleichgesinnten aufbauen.
5.2.6 Finanzen
Abbildung 5.2.6: „ Wie wichtig ist es Ihnen, dass Sie selbst entscheiden können, wie viel Sie der Kirche zahlen möchten?“
1 = unwichtig 10 = extrem wichtig
Viele junge Landeskirchenmitglieder würden gerne selbst entscheiden, wie viel sie der Kirche zahlen. Daraus lässt sich schliessen, dass sie mit der aktuellen Zahlungs- pflicht, den Kirchensteuern, unzufrieden sind. Die Freikirchenmitglieder, bei denen die Abbildung ähnlich aussieht, müssen mit ihrer „Spendenmethode“ einverstanden sein.
37 Gürtler, Helga (2009): FOCUS online, Nr.3 2009. http://www.focus.de/schule/familie/erziehung/tid-14943/titelthema-freunde_aid_418599.html (15.10.2013)
22
Obwohl alle minderjährigen Teilnehmer der Umfrage noch nicht verpflichtet sind, Kirchensteuern zu zahlen, herrscht bereits Unmut darüber. Gemäss einer Umfrage der Deutschen Bank unter Jugendlichen und jungen Erwachsenen Deutschlands (14 bis 25 Jahre alt), ist diese Altersgruppe äusserst sparsam. Die Sparquote ist bei Jugendlichen dreimal so hoch wie die der privaten Haushalte.38 Die Jugendlichen gehen demnach sehr umsichtig mit ihrem Geld um. Wie viel Geld sie wofür ausgeben, möchten sie selbst entscheiden können.
5.3 Fazit
Was die Landeskirche sowie die Freikirche unbedingt beibehalten sollten, ist der Inhalt ihrer Gottesdienste sowie die Art, wie die Bibel gepredigt wird. Durch die Umfrage wurde deutlich, dass die klaren Ansichten und Regeln, was richtig und was falsch ist, das ist, was die Mitglieder der Freikirchen möchten. Ihre Prediger interpretieren die Bibel als Wort Gottes und geben sie wörtlich und nicht symbolisch wieder wie die Pfarrer der Landeskirche. Allfällige Fragen sollen nach dem Gottes- dienst beantwortet sein. In der reformierten Landeskirche jedoch ist das Ziel des Gottesdienstes, Fragen und Stoff zum Nachdenken aufzuwerfen. Kritik an der Bibel wird in der Freikirche stark abgelehnt – in der reformierten Kirche jedoch gewünscht. Der Inhalt der Gottesdienste ist sehr verschieden. In diesem Punkt jedoch sind beide Kirchgänger vollständig zufrieden. Der Attraktivitätsfaktor „Inhalt“ ist in beiden Kirchen ausgeschöpft.
Ein konträres Bild zeigt sich beim Faktor „Form“: Zufriedenheit bei den Freikirchen – Unmut bei den Landeskirchen. Gemäss meiner Umfrage wären die jugendlichen Landeskirchenmitglieder mit der Form von freikirchlichen Gottesdiensten glücklicher. Sie sind sich mehrheitlich einig, dass die Form ein grosser Schwachpunkt der evangelischen Landeskirche ist. Folglich herrscht dringender Handelsbedarf bei den Landeskirchen.
38 News Toptarif (2013): Jugendliche sind sparsamer als Erwachsene, 9.8.2013. http://news.toptarif.de/jugendliche-sind-sparsamer-als-erwachsene/ (15.10.2013)
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Ebenfalls unglücklich sind viele Landeskirchenmitglieder mit dem Faktor „Finanzen“. Die Zahlungsphilosophie der Freikirchen spricht sie eindeutig mehr an. Ein anderes Abgabesystem bei den Landeskirchen einzuführen, ist jedoch deutlich schwieriger, als die Form des Gottesdienstes zu ändern, da die Landeskirchen eine Verbindung mit dem jeweiligen Kanton und somit das Recht haben, Steuern von ihren Mitgliedern einzuziehen. Obwohl diese Lage den Mitgliedern missfällt, werden sie sich wohl weiterhin mit den obligaten Steuern abfinden müssen. Dies ist bei den Freikirchen nicht der Fall, da sie frei von jeglicher Verstaatlichung sind. Der Faktor „Finanzen“ missfällt den Mitgliedern, ist jedoch nur schwer veränderbar.
Die Gemeinschaft ist ein Faktor, welcher sehr stark von allen anderen Faktoren abhängt. Da die Freikirche mit den vorherigen fünf Faktoren alle Ansprüche ihrer Mitglieder berücksichtigt hat, ist es ihnen auch besser möglich, das Untereinander zu gestalten. Gibt es jedoch viele negative Faktoren wie in der Landeskirche, sind nur wenige Leute regelmässige Kirchgänger. Der Aufbau einer Gemeinschafts-Kultur gestaltet sich deshalb schwieriger.
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6 Die Reaktion der reformierten Landeskirche auf den Mitglieder- schwund
Die Landeskirche ist sich des Mitgliederschwunds bewusst. Welche Massnahmen getroffen werden müssen, bereitet einigen reformierten Pfarrern, mit welchen ich gesprochen habe, Kopfzerbrechen. Viele der Mängel der Landeskirche, welche die Jugendlichen durch die Umfrage ans Licht brachten, hatten sie bereits vermutet oder konnten sie nachvollziehen.
6.1 Projekt „Streetchurch“
Die reformierte Kirche sieht ihrem Mitgliederschwund nicht tatenlos zu. Dies versicherten mir nicht nur einige Pfarrer. Auch „Jugendkirchen“ wie die „Streetchurch“ in Zürich oder die „Fabrikkirche“ in Winterthur zeigen die Bemühungen und Mass- nahmen der reformierten Kirche gegen den Mitgliederschwund – und sind von Erfolg gekrönt.
Die Streetchurch erinnerte mich jedoch in vielerlei Hinsicht an Freikirchen. Zunächst nur schon der englische Name „Streetchurch“ mit dem Motto „Love can do it“ erinnert an Namen von Freikirchen wie „ICF (International Christian Fellowship)“ oder „New- life Bern“. Ihre Gemeinschaftsanlässe wie „Ladies Time“ oder „Men Evening“ sind vom Namen her sehr ähnlich zu ICFs „Ladies Celebration“ und „Men’s Celebration“. Auch die Website von Streetchurch ist den Websites von Freikirchen sehr ähnlich. Dasselbe gilt für die Flyer, welche denen der Freikirchen nicht hinterherhinken. Mit R&B, Rap und Gospel, Lichteffekten und Partystimmung überzeugen sie die Jugend- lichen im Bereich Musik und Atmosphäre. Abgesehen von den nur monatlich durch- geführten Gottesdiensten mit durchschnittlich 300 Besuchern engagiert sich die Streetchurch im sozialen Bereich. Sie kümmert sich um orientierungslose Jugendliche, welche persönliche Probleme haben oder zum Beispiel arbeitslos sind.
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Bei all diesen offensichtlichen Similaritäten mit Freikirchen habe ich beim Besuch der Streetchurch gefragt, ob man sich bei der Gestaltung der Streetchurch an Freikirchen orientiert hat. Der befragte Mitarbeiter wich meiner Frage aus und sagte lediglich, dass die „Freikirche uns (den Landeskirchen) vielleicht etwas voraus hat.“ Jürg Seeger, Pfarrer der Landeskirche in Oberwinterthur, bestätigte mir jedoch, dass die Pfarrer der Streetchurch vermehrt freikirchlich denken, was jedoch bei der Fabrik- kirche in Winterthur nicht der Fall sei. Beide Kirchen sind gut besucht und ein voller Erfolg.
6.2 Die Reaktion der landeskirchlichen Pfarrer
Um mir einen Überblick über die Reaktionen verschiedener Pfarrer zu verschaffen, habe ich mit sieben reformierten Pfarrpersonen von sieben Kirchgemeinden im Kanton Zürich gesprochen.
In einem Punkt stimmten sechs von den sieben Pfarrpersonen überein: Bei einem sonntäglichen, traditionellen Gottesdienst sind nur sehr wenige Jugendliche dabei und die meisten davon nur um genug Punkte zu sammeln für ihre Konfirmation. Grund dafür sei das fehlende Interesse Jugendlicher an der Kirche, meinte Pfarrer Leuthold. Die Pfarrerin Cartwright bemerkte, dass der Zeitpunkt der traditionellen Gottesdienste für Jugendliche nicht attraktiv sei. Einerseits gehöre der Sonntag- morgen oft den Familien, andererseits wollen Jugendliche an diesem Morgen auch ausschlafen. Pfarrer Meister und Seeger sind der Ansicht, dass die Konfirmanden nach dem „Gottesdienstzwang“ für die Konfirmation auf Distanz gehen. Nach der Konfirmation geniessen sie ihre wiedergewonnene „Freiheit“ und lassen sich einige Zeit nicht mehr blicken. Eine andere Erfahrung hat Pfarrer Daniel Hanselmann gemacht. Er berichtete von einer guten Beziehung zwischen ihm und den Jugend- lichen seiner Gemeinde: Viele Konfirmanden kommen öfter als effektiv verlangt wird. Cartwright erzählte von einer ähnlichen Erfahrung bei ihren klassischen Jugend- gottesdiensten, bei welchen die Jugendlichen häufig mehr Punkte als nötig ein- sammeln. Bei dieser Art Gottesdienst können sich die Jungen auch aktiv beteiligen.
26
Viele der befragten Pfarrer sind stets am Ausprobieren, was ihrer Gemeinde und den Jugendlichen gefallen könnte. Viele Experimente sind auch eine direkte Folge des Mitgliederschwunds. So auch bei Hanselmann: In seiner Gemeinde wird nun der Gottesdienst einmal im Monat auf den Abend verschoben. Damit weicht er dem Problem des nicht idealen Zeitpunktes aus. Dazu experimentiert er viel mit neuen Gottesdienstelementen und –formen. So fanden in ihrer Gemeinde schon Musik-, Abend-, Konzert- und Taizé-Gottesdienste statt.
Cartwright versucht es zurzeit, abgesehen vom schon vorhandenen klassischen Jugendgottesdienst, mit einem neuen, bei welchem eine Hiphop-Band auftritt. In der Testphase findet er viermal pro Jahr statt. Der erste Versuch war laut Pfarrerin ein voller Erfolg. Um für ein „Untereinander“ bei den jugendlichen Kirchenmitgliedern zu sorgen, gibt es in ihrer Gemeinde einen Mädchentreff, welcher gut funktioniert. Den Jungstreff gibt es zurzeit noch nicht. Dieser ist allerding in Planung. Auch Pfarrer Steblers Gemeinde verfügt über zwei Jugendgruppen, welche stets gut besucht werden.
Schlechte Erfahrung mit Jugendtreffs hat Leuthold gemacht. Früher gab es einen, wegen schlechter Besucherzahl wurde er jedoch abgeschafft. Auch mit Änderungen des Musikstils im Gottesdienst war von Erfolg keine Rede. Zwar seien beim ersten oder zweiten Mal ein paar Jugendliche gekommen. Danach verflog jedoch das Interesse schnell.
Da er, gleich wie Pfarrer Fiebig und Seeger, ein Zurückkommen der Jungen beob- achtet, sobald sie heiraten oder eine Familie gründen, bleibt er beim traditionellen sonntäglichen Gottesdienst und dem klassischen Jugendgottesdienst, welcher zum Konfirmationsunterricht gehört.
In der Kirchgemeinde von Meister sieht es im Moment ähnlich aus. Da er erst dieses Jahr in die Gemeinde gewechselt hat, ist es nun seine Aufgabe, ein Angebot für Jugendliche zusammen zu stellen. Ideen dafür sind, wie bei Cartwright und Stebler, mit einer Jugendgruppe das „Untereinander“ aufzubauen. Diese Gemeinschaft sollte jedoch auch schon bei jungen Eltern anfangen, mit familienfreundlichen Gottes- diensten, bei welchen auch die Kinder mitmachen können. Einmal im Monat soll auch ein traditioneller Gottesdienst am Sonntagmorgen, welcher von älteren Leuten
27
geprägt ist, durch einen modernen Jugendgottesdienst mit PowerPoint-Präsentation und einer Live-Band ersetzt werden.
6.3 Fazit
Einen Gottesdienst zu gestalten, welcher jungen und alten Leute gefällt, ist eine sehr anspruchsvolle Aufgabe. Gemäss Seeger besteht die Schwierigkeit darin, dass es viel mehr Unterschiede unter den Landeskirchenmitgliedern als unter den Frei- kirchenmitgliedern gibt. Während die Freikirchen Gleichgesinnte um sich scharen, hat die Landeskirche ein breites Spektrum von Leuten mit breit gestreuten Interessen und Ansichten.
Viele Pfarrer vermuteten, dass es vor allem die fehlenden Antworten sind, welche die Jugendlichen vom Kirchgang abhält. Dagegen sprechen die Ergebnisse meiner Um- frage. Sie zeigen, dass die Mitglieder der Landeskirche mit dem Inhalt des Gottes- dienstes vollkommen zufrieden sind – auch die Jugendlichen, welche selten die Kirche besuchen. Der Faktor Inhalt sollte also auf keinen Fall geändert werden, was die Pfarrer jedoch auch nicht vorhaben.
Mit dem Faktor Form gehen die Pfarrer unterschiedlich um. Viele befinden sich in der Phase des Experimentierens und des Beobachtens. Die Ansprüche vieler Umfrage- teilnehmer im Bereich Form sollten gemäss ihren Aussagen befriedigt sein mit Musik einer Hiphop-Band oder mit Konzertgottesdiensten.
Die Atmosphäre in der Kirche ist anspruchsvoller zu ändern als die Form. Fiebig sorgt mit seiner Stimme und Gesten für eine entspannte, freundliche Atmosphäre. Cartwright lockert die Stimmung mit Geschichten sowie gelegentlichem Humor auf.
Für ein lebendiges Untereinander sorgen Jugendtreffs und –gruppen oder familien- freundliche Gottesdienste.
Manche Innovationen der Pfarrer und Jugendkirchen wie die Streetchurch oder die
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Fabrikkirche dürften viele Bedürfnisse der Jugendlichen befriedigen. Ich bin überzeugt, dass einige Gemeinden der Landeskirche auf gutem Wege sind, ihre Kirche für Jugendliche attraktiver zu gestalten.
Die Landeskirche hat durch die extrem unterschiedlichen Interessen ihrer Mitglieder eine sehr schwierige Aufgabe, es ihren Mitgliedern Recht zu machen. Doch schon die ersten direkten Massnahmen gegen den Mitgliederschwund zeigen Erfolge.
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7 Schlusswort
Mein Maturitätsarbeit-Projekt war eine sehr interessante Erfahrung. Es hat mir ermöglicht, mit vielen verschiedensten Personen in Kontakt zu treten und unter- schiedlichste Meinungen zu hören und zu diskutieren. Anspruchsvoll und sehr zeitaufwendig war das Einarbeiten in das Thema. Durch die aktive Teilnahme an einem fünftägigen Theologielager, konnte ich die Ansichten und Unterschiede von Frei- und Landeskirchenmitglieder sehr gut kennenlernen und mich vertieft mit der Thematik auseinandersetzen. Ebenfalls sehr zeitintensiv waren die Durchführung und das Auswerten meiner Umfrage und Interviews. Beides hat sich auf jeden Fall gelohnt.
Es ist mir ein Anliegen, allen zu danken, die mich bei meiner Arbeit unterstützt haben: Meinem Maturarbeitsbetreuer Bruno Amatruda, meiner Familie, meinem Freund, den Pfarrpersonen Esther Cartwright, Jürg Seeger, Jörg Leuthold, Rolf Meister, Helge Fiebig, Christoph Stebler und Daniel Hanselmann, sowie den 93 Jugendlichen für ihre 1‘246 Antworten für meine Umfrage.
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8 Literaturverzeichnis
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Bibel, 1. Korinther 6 und 14, 1. Timotheus 2, 3. Mose 20
Blumer, Claudia und Stamm, Hugo (2012): Evangelikale missionieren bei Asyl- suchenden. Tagesanzeiger, 18.10.2012. http://www.tagesanzeiger.ch/schweiz/Evangelikale-missionieren-bei- Asylsuchenden/story/31092251 (14.10.2013)
Gürtler, Helga (2009): FOCUS online, Nr.3 2009. http://www.focus.de/schule/familie/erziehung/tid-14943/titelthema- freunde_aid_418599.html (15.10.2013)
Hafner, Urs (2007): Wenn Gott verdampft. Die Wochenzeitung, 18.1.2007. http://www.woz.ch/0703/glaube-und-gesellschaft/wenn-gott-verdampft (12.10.2013)
Krech, Hans und Kleiminger, Matthias (2006): Handbuch religiöse Gemeinschaften und Weltanschauungen, 6. Überarbeitete und erweiterte Auflage. Wissen- schaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt.
Kretzschmar, Gerald (2001): Distanzierte Kirchlichkeit – Eine Analyse ihrer Wahr- nehmung. Neukirchener Verlagsgesellschaft.
Meckel, Nina (2008): Dritte werden zur Vertrauensperson. Focus online, 12.5.2008. http://www.focus.de/schule/schule/tid-9940/schule-dritte-werden-zur- vertrauensperson_aid_301103.html (26.10.2008)
News Toptarif (2013): Jugendliche sind sparsamer als Erwachsene, 9.8.2013. http://news.toptarif.de/jugendliche-sind-sparsamer-als-erwachsene/ (15.10.2013)
Reformierte Landeskirche Aargau (2009): Begriffe und Definitionen. http://www.ref- ag.ch/informationen-medien/begriffe_definitionen.php (30.8.2013).
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http://www.religionenschweiz.ch/projekt.htmlekt.html (9.10.2013)
Schmid, Georg und Schmid, Georg Otto (2003): Kirchen, Sekten, Religionen, 7. Überarbeitete und ergänzte Auflage. Theologischer Verlag Zürich.
SRDRS (2010): Reformierte Kirche kämpft gegen Mitgliederschwund. http://drs.srf.ch/www/de/drs/nachrichten/schweiz/182840.reformierte-kirche- kaempft-gegen-mitgliederschwund.html (8.10.2013)
Stolz, Jörg (2009): Interview Sternstunde Religion: Religionen in der Schweiz: Fakten und Trends. http://www.srf.ch/player/tv/sternstunde-religion/video/religionen-in- der-schweiz-fakten-und-trends?id=91c3ca83-981b-4e46-bd53-07f5e221fbfe (21.9.2013).
Stolz, Jörg et al. (2011): Die Religiosität der Christen in der Schweiz und die Bedeutung der Kirchen in der heutigen Gesellschaft. Schweizerischer Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung, NFP 58, Themenheft IV.
Titelblatt:
Abbildung 1:
Kirche Thalwil: http://www.srf.ch/news/regional/zuerich-schaffhausen/die-reformierte- kirche-muss-sich-gesund-schrumpfen (19.11.2013)
Abbildung 2: ICF Zürich: http://www.icf.ch/media/galerie.html (19.11.2013)