Freitag, 15. Februar 2019

Greta und die Angst


Im vergangenen Dezember hielt die 15jährige Greta Thunberg an der renommierten TED-Innovationskonferenz eine Rede. Darin berichtet sie, dass sie sich im Alter von acht Jahren mit dem Thema Klimawandel zu befassen begann, in der Folge depressiv wurde, mit elf nichts mehr ass und sogar ihre Sprache verlor. Geheilt habe sie erst das Engagement für das Klima.
Mit ihrer wiedererlangten Sprache spricht Greta sehr vielen Menschen aus dem Herzen. Es erstaunt nicht, dass sie zuerst von den Medien (Süddeutsche Zeitung: «Galionsfigur der Klimaschutzbewegung»), und dann auch auf der Strasse («Ich finde es eine gute Sache, dass sich Greta so einsetzt für das Thema», Blick-Umfrage bei Schülern im Sitzstreik)
als Heldin gefeiert wurde.


Trotzdem: So sehr ich Gretas Einsatz für den Klimaschutz bewundere, beschlich mich ein mulmiges Gefühl. Dürfen Eltern in Zeiten des digitalen Mobbings zulassen, dass das eigene Kind derart exponiert wird? Was ist die Rolle des Vaters, der Greta begleitet? Und ist es nicht unverantwortlich, das Spiel der Medien mitzumachen, einen jungen Menschen aus dem Schutz der Gruppe herauszureissen und ihn als Einzelnen der Weltöffentlichkeit zu präsentieren - selbst, wenn er dies selber will? 


Am Weltwirtschaftsforum in Davos Ende Januar sagte Greta, sie wünsche uns Erwachsenen ihre Panik. Wir sollen ihre Ängste spüren, die sie jeden Tag durchlebt. Anders formuliert: Hier leidet ein Kind Todesängste und versucht diese mit Aktivismus zu besiegen. Eine verstörende Aussage, ist es doch ein massiver Unterschied, ob ein Mensch am Klimawandel leidet oder, wie Greta, an der Angst davor. Denn anders als Krieg oder Flucht ist der Klimawandel abstrakt. Er hinterlässt keine traumatischen Spuren. Wir können den schleichenden Rückgang eines Gletschers messen, nicht aber am eigenen Leib erfahren. Doch genau diese Problematik, dass sich Gretas politisches Engagement aus ihrer kindlichen Angst speist, geht in der allgemeinen Begeisterung unter. Vielleicht auch, weil der Klimawandel uns Erwachsenen selbst Angst macht und uns die nötige Distanz dazu fehlt. 

Helfen kann ein Gedankenspiel. Nehmen wir anstatt dem Klimawandel den Salafismus. Ein Mädchen beschäftigt sich eingehend damit und wird am Ende depressiv. Später spricht es auf Podien gegen die Islamisierung. Wäre es nicht selbstverständlich, dass die Öffentlichkeit kritisch nachfragen würde, wie ein Kind auf ein solches Thema kommt, welche Medien es konsumiert und was die Rolle der Eltern ist? Und müssten diese ihr Kind nicht daran hindern, sich mit einer Thematik zu befassen, die es krank macht? 
Beim Klimawandel sind sich aber alle einig. Darum ist es so einfach, die Ängste eines Mädchens zu verklären. Dabei geht es auch anders, wie Roberto Benignis Film La vita é bella zeigt. Dort lässt ein KZ-Häftling seinen kleinen Sohn im Glauben, der Lageralltag sei nur ein Spiel. Wenn er schon die Bedrohung nicht vom Kind fernhalten kann, so doch wenigstens die Angst. Ist das nicht der viel angemessenere Umgang mit kindlichen Ängsten?

Ich weiss von Kindern der Zeugen Jehovas, die Albträume von „Harmageddon“, dem Weltende, haben. Sollten sie später durch Missionieren die Angst in Schach halten, applaudieren wir auch nicht, sondern nehmen an, die Erwachsenen hätten den Kindern ihre eigenen Ängste eingepflanzt.

Harmaggedon im Wachtturm 


Wohlgemerkt, ich glaube nicht, dass die Klimaerwärmung ein Hirngespinst ist. Dennoch ist hier ein unbewusster religionspsychologischer Aspekt mit im Spiel. Gretas Biografie liest sich da wie eine Heiligenvita vor dem Hintergrund unserer modernen ökologischen Apokalyptik: Ein unschuldiges Mädchen durchleidet Höllenqualen, trägt gewissermassen unsere Ängste, doch sie findet durch ihre Mission wieder zum Leben zurück. Ihre Erweckung heilt nicht nur sie selbst, sondern trägt zur Rettung der Welt bei. Bürdet sich hier ein junger Mensch nicht zu viel auf? Oder sind es die Erwachsenen, die ihr diese Bürde aus einem schlechten Gewissen heraus aufhalsen? Trägt sie wie der biblische Sündenbock die Last der Gemeinschaft und wird dafür glorifiziert?

Wer so fragt, wird zum Ketzer. Dies wurde mir bei einer hitzigen Diskussion auf Facebook klar, in deren Verlauf ich heftig kritisiert wurde. Pathologisiere ich mit meiner Sichtweise Greta? Beraube ich sie ihrer Stimme? Mache ich die Heldin zum Opfer? Schade ich mit meinen Anfragen gar dem Klimaschutz? Die Kritik ist bedenkenswert. Meine Ambivalenz aber, die bleibt. Und so sehr ich Gretas Mut bewundere und das Engagement junger Menschen gutheisse; die inneren Widersprüche anzusprechen, die ich bei diesem Personenkult wahrnehme, wird Greta nicht schaden. Und erst recht nicht der Sache, für die sie einsteht.



Bruno Amatruda

(erschienen im brefmagazin 3/2019)

Mittwoch, 14. November 2018

Erlöse uns von den Messiassen




Seinen Rückblick auf das erste Amtsjahr von Emanuel Macron überschrieb der „Blick“ mit der Titelzeile „Der Messias macht’s“. Schon der „Spiegel“ hatte den Franzosen bei der Präsidentenwahl zum „Messias der Mitte“ erkoren. Superlative und Schlagzeilen ziehen sich an wie Magnete. 





Der „Blick“ kündigte 2008 Ottmar Hitzfeld bei seinem Antritt als Trainer der Schweizer Fussballnationalmannschaft als Messias an. Hitzfeld wehrte sich in den Medien vehement gegen diese Adelung. Vielleicht war dem gläubigen Katholiken die religiöse Überhöhung zuwider; sicher ist aber, dass er die damit verbundenen überzogenen Erwartungen sofort abklemmen wollte. Denn so viel ist sicher: Ein irdischer Messias kann nur scheitern.  „Der Messias tritt ab als Mensch“ schrieb derselbe „Blick“ zum Ende von Obamas Zeit im Weissen Haus. Diese Enttäuschung ist hausgemacht von jenen, die nicht einsehen wollen, dass Obama schon als Mensch antrat. Und eben nicht als Messias. Obwohl ich um des Lokalkolorits Willen vor allem die Schweizer Zeitung erwähne – ausländische Medien geizen genau so wenig mit religiösen Begriffen.


«Als ich die Messias-Schlagzeile gelesen habe, war ich drauf und dran, alles hinzuschmeissen und den Job als Nationaltrainer gar nicht anzutreten.»



Natürlich benutzen die Journalisten den Messiastitel nicht im christlichen Sinne. Aber die religiöse Konnotation ist gewollt. Sie stilisiert Politiker, Fussbaltrainer oder iPhones-Erfinder zu Heilsbringern. Die immer stärker werdende Personalisierung gesellschaftlicher Debatten findet darin ihre Zuspitzung. Haben wir es dabei mit einem rein medialen Phänomen zu tun, oder äussert sich in der Euphorie um neue Hoffnungsträger nicht auch das kindliche Bedürfnis nach einem, der es richtet? Narzisstischen und machtgierigen Politikern (und davon gibt es nicht wenige) kommt dieses Bedürfnis sehr entgegen. Doch die Welle, auf der sie reiten, kann auch schnell brechen. Der „Schulz-Effekt“, der die SPD zu Beginn der überraschenden Kandidatur von Martin Schulz für die Deutsche Bundestagswahl 2017 in holotrope Erregungszustände versetzte, verpuffte nicht nur bald, sondern verkehrte sich in sein Gegenteil. Nach der deutlichen Wahlniederlage wurde Schulz mit Schimpf und Schande von den eigenen Leuten verjagt.
Man könnte einwenden, es sei ja gerade das Schicksal eines Messias, vom eigenen Volk verkannt zu werden. War es bei Jesus nicht genau so? Aber nicht doch. Der christliche Messias ist der, der (wieder) kommt. Sein Ort ist die Zukunft. Dieses Merkmal hat er mit dem jüdischen Messiasbegriff gemeinsam. Der wahre Messias lässt auf sich warten. Es ist ein Paradox: Man wartet beharrlich auf etwas, das nicht eintritt. Und in diesem Warten ereignet sich menschliche Geschichte. Denn solange der Messias nicht gekommen ist, müssen wir die Geschichte selber vorantreiben. Die Zukunft ist offen und zugleich positiv besetzt. „Denn in ihr war jede Sekunde die kleine Pforte, durch die der Messias treten konnte“, wie Walter Benjamin zum jüdischen Geschichtsverständnis in seinem Aufsatz „Über den Begriff der Geschichte“ schrieb. Der deutsche Publizist Henryk M. Broder, legte in seiner geistreichen Art noch eine Schippe drauf. In einer Talksendung erklärte er, nach jüdischer Vorstellung komme der Messias erst, wenn alle Juden fromm seien. Nicht gläubige Juden wie er selbst stellten also sicher, dass die messianische Ankunft ausbliebe und die Welt somit weiterbestehen könne.


Walter Benjamin


Das Ausbleiben der Wiederkunft Christi hatte auch im Christentum historische Folgen. Man musste sich in der Welt einrichten, Regeln des Zusammenlebens erstellen und immer wieder anpassen, kirchenpolitische Entscheide fällen und sich mit den weltlichen Aspekten der christlichen Existenz befassen. Mit allen Vor- und Nachteilen, mit allen Licht- und Schattenseiten, die wir aus der Kirchengeschichte kennen. Dies hiess aber auch zu lernen, selber Verantwortung zu übernehmen.
Politjournalisten und PR-Beratern würde ich raten, uns mit Messiassen zu verschonen. Dieser Schuss geht immer nach hinten los. Der wahre Messias aber drängt uns nach vorne. Ob er jetzt kommt oder nicht.  


(Erschienen als Kolumne von Bruno Amatruda im brefmagazin 11/2018)

Sonntag, 18. März 2018

Das linke Minderheiten-Paradox





Gewisse soziale Gruppen sind aufgrund ihrer prekären Lage besonders schutzbedürftig. Verfolgte, religiöse Minderheiten, Verarmte, Frauen, Kinder. Traditionellerweise hat sich die politische Linke immer als Anwältin dieser Marginalisierten verstanden.Doch was passiert, wenn Minderheiten plötzlich nicht vor staatlichen Übergriffen oder vor der Mehrheitsgesellschaft, sondern vor anderen Minderheiten in Schutz genommen werden müssen? Anders gesagt: Wenn Schutzbedürftige auf andere Schutzbedürftige losgehen?

Seit Jahren beobachte ich dabei einen linken Reflex, der zwanghaft auf jedes solches Ereignis folgt und letztlich auf Realitätsverweigerung hinaus läuft. Als in der berüchtigten Kölner Silvesternacht ein Mob junger, vorwiegend aus dem nordafrikanisch-arabischen Raum stammender Männer sich an Frauen verging, analysierte „die Grünen“ Politikerin Claudia Roth eiligst, man habe es hier nicht mit einem Ausländer-, sondern mit einem allgemeinen Männerproblem zu tun. Um der Instrumentalisierung des Vorfalls durch Fremdenfeinde zuvorzukommen, hievte sie es auf die Ebene der Geschlechterbeziehungen und stellte die männliche Bevölkerungshälfte unter Generalverdacht. Verallgemeinerung ist eine der möglichen Stategien im Umgang mit den Widersprüchen, die bei der Bewirtschaftung unterschiedlicher Minoritäten zutage treten. Zum Abschluss der Internationalen Antisemitismus-Konferenz in Wien diesen Februar gab ein Professor im Deutschen Fernseher den Satz von sich: „Jede Art von Antisemitismus ist schlimm.“ Der Fernsehbeitrag beleuchtete diverse Aspekte, von Hass im Netz bis zum Liedgut österreichischer Burschenschaften. Dass eine Art von Antisemitismus für Juden gefährlicher ist, blieb seltsam unterbelichtet. Rassistisch motivierte Morde an Juden in Europa sind in den letzten 17 Jahren immer von Moslems begannen worden. Dies legte der Antisemitismusforscher Manfred Gerstenfeld in der Jüdischen Rundschau letzten Dezember chronolgisch dar. Frankreich ist mittlerweile derart gefährlich, dass viele französische Juden mit Auswanderungsgedanken spielen. Laut Historiker Michael Wolfssohn liegt der Hauptgrund für den Anstieg des Antisemitismus im aufkeimende Radikalislamismus. Da aber Muslime selbst immer wieder Opfer von Rassismus sind, haben wir es für Linke wieder mit einer kognitiven Dissonanz zu tun, mit der sie vor allem auf der Kommunikationsebene bisher keinen guten Umgang gefunden haben.

 Der erklärte Ex-Muslim Kacem El Ghazzali gab letztes Jahr in einem Zeitungsinterview mit dem Bund seine Enttäuschung kund über den seiner Meinung nach zu naiven und laschen Umgang vieler Schweizer Behörden und Institutionen mit dem Islam, zumal in seiner politisierten Form.  Eine SP-Regierungsrätin kritisierte ihn ebenso scharf wie eine linke Professorin aus Basel. In seinem Heimatland erhielt El Ghazzali Morddrohungen seitens religiöser Fanatiker. In der Schweiz ist seine Islamkritik von linker Seite aber auch nicht erwünscht. Als Anfang Jahr bekannt wurde, dass schwedische Mitarbeiterinnen in Flüchtlingseinrichtungen sexuelle Beziehungen zu jungen Migranten unterhalten hatten und deshalb entlassen wurden, warf das keine grossen „she too“-Wellen.   

Man bekommt den Eindruck, dass die Linke unangenehme Themen, welche der Konkurrenz und der Feindschaft unter sozialen Gruppen geschuldet sind, am liebsten mit einem grossen Tabu belegen würde. Verallgemeinern und banalisieren, wegschauen und andere beim Kritisieren massregeln: Wieso tun sich linke Politiker so etwas an? Ich vermute aus Angst vor den Rechten. Denn sie wissen, Rechtspopulisten sind um jeden dieser Vorfälle dankbar, er bestätigt ja genau ihre Sicht auf all die verhassten Minderheiten. Doch wer alles meidet, um „den Rechten nicht in die Hände zu spielen“, der spielt den Rechten genau in die Hände.  Alles, was verdrängt wird, kommt später negativ potenziert zurück. Das wusste schon Sigmund Freud.Die Linke ist aufgrund ihrer Tabuisierungen mit verantwortlich für den Aufstieg des rechtspopulistischen Monsters.

(Erschienen als Kolumne von B. Amatruda im brefmagazin 3/18)

Mittwoch, 21. Februar 2018

Moralinsucht




Irgendwann verlor die Kirche ihre Macht, den Menschen moralische Vorgaben zu machen.
Als sie es noch tat, war die Welt in Ordnung. Sie funktionierte nämlich wie eine Familie: Die Eltern setzten die Standards, die Kinder wählten zwischen Gehorsam, offener Rebellion und vorgetäuschtem Gehorsam (ausser Haus tat man, was man wollte).  Doch mit dem Machtverlust der Mutter Kirche hielt nicht etwa die moralische Befreiung Einzug, sondern nun gingen die Kinder aufeinander los. Ernährungsgewohnheiten, medizinische Entscheidungen, Kauf- und Abstimmungsverhalten: Es gibt keinen Bereich, der nicht zur Frage der Moral erhoben wird und einen permanenten gesellschaftlichen Antagonismus kreiert: Impfende und Impfgegner, Stillende gegen Flaschende, Vegetarier und Grillmeister, Vaterlandsverräter gegen Fremdenfeinde. Das Verstörende ist ja nicht, dass hier verschiedene Ansichten auf einander prallen, sondern die an Raserei grenzende emotionale Vehemenz, mit welcher sich die Menschen gegenseitig bekämpfen. So als hinge die eigene Existenz an der Frage „Energiesparlampen oder Glühbirnen?“.

Jede Gemeinschaft bildet Sitten, Normen und Werte aus, das liegt in ihrer Natur. Traditionellerweise sind diese aber eingebettet in ein grösseres weltanschauliches Ganzes. Wo dieses Ganze wegfällt, kann es passieren, dass sich die Moral an seine Stelle setzt und als Sinnersatz fungiert. Aus Moral wird so Moralismus.

Des Moralisten Verlust der Verhältnismässigkeit, das Festhalten an der eigenen Meinung wie an einem Strohhalm, der Tunnelblick: Mich erinnert das an Süchtige. Der Alkoholiker, der auf sein Trinkverhalten aufmerksam gemacht wird, fühlt sich im Innersten angegriffen und reagiert mit totaler Abwehr. Genauso wie die Linken, als man sie auf die stalinistischen Verbrechen hinwies. Oder die Bürgerlichen, wenn man das imperialistische Gebaren des Westens anprangerte. Denn Sucht, auch Moralinsucht, führt zu verzerrter Wahrnehmung. Die Sucht setzt sich an die Stelle des Ichs und muss gegen rationale Argumente geschützt werden. Erzählen Sie einem überzeugten Fleischesser von den Zuständen in Mastbetrieben. Oder einem Veganer von den gesundheitlichen Risiken, denen er sein Kind aussetzt. Sie werden niedergebrüllt werden wie Frau Merkel von der Pegida und wie Frau Petry von der Antifa.

Und dann diese Dynamik: Sucht kriegt den Hals nicht voll. Niemand kann zwei Zigaretten am Tag rauchen, innerhalb weniger Wochen wird daraus ein Päckchen. Mit dem Moralin verhält es sich gleich. Nach jeder moralischen Errungenschaft wird die Messlatte höher gelegt. Vor ein paar Jahren klagte eine Schweizerische Organisation gegen eine Waschmittelfirma. Diese habe durch das Weisswaschen eines braunen Teddybären in einem Werbespot rassistische Stereotypen bedient. Der Realitätsverlust des Moralinsüchtigen treibt ihn immer an den Rand der Blamage. Von Moral wird man nie satt. Das hat mit dem idealistischen Charakter von Normen zu tun. Das Ideal selbst kann gar nie erreicht werden, es dient aber als Orientierungspunkt. Mit Moral, vor allem in ihrer militanten Erscheinungsform, lassen sich allerdings eigene tiefsitzende Probleme vortrefflich verdecken. Ich habe Feministinnen getroffen, die ihr privates Vaterproblem auf die ganze Männerwelt projiziert haben. Und Ausländer, die rassistisch gegen andere Ausländergruppen hetzen, weil diesen angeblich das Leben so viel einfacher gemacht wird.

Das Loch, das der Süchtige in sich verspürt, stopft noch so viel Heroin nicht. Das eigentliche Problem des Menschen kann ebenso wenig mit Moral gelöst werden. Moral ist paulinisch-theologisch gesprochen also das Gesetz, das den Menschen stetig überführt.
Der Moralinsüchtige setzt die Moral absolut. Wie dem Süchtigen sein Suchtmittel heilig ist, erlangt in nachkirchlichen Zeiten ein beliebiger moralischer Inhalt sakralen Status. Wehe jemand ist gegen Demokratie oder gegen Menschenrechte. Er gilt sofort als Ketzer.

Dem Egoismus des Süchtigen entspricht der Narzissmus des Moralisten. Die gerechte Sache, um die es ihm angeblich geht, dient nur als Staffage für seine Selbstdarstellung. Deshalb umgibt sich der Moralinsüchtige gerne mit Gleichgesinnten. Sie bilden den Resonanzraum seines Egos, wie beim Süchtigen die Opiumhöhle und beim Trinker die Saufkumpane.

Die evangelische Kirche verkündet doch das Evangelium der Freiheit. Wer könnte die Moralisten besser von ihrer Sucht befreien? 

(erschienen in brefmagazin 2017)

Freitag, 27. Oktober 2017

Oneway Ticket zum Terror?

Nein, die beiden Therwiler Schüler, die aus religiösen Gründen ihrer Lehrerin den Handschlag verweigerten, sind keine Terroristen. Auch ihr Vater, der als Imam in der Baseler König-Faysal-Moschee amtiert, hat nichts mit irgendwelchen Anschlägen zu tun. Nicht mal dem Islamischen Zentralrat (IZRS), welcher in der Therwiler Handschlagaffäre Hand anbot (nur juristisch, versteht sich), können Verbindungen zu Attentätern nachgewiesen werden. Im Gegenteil, Ratsvorsitzender Nicolas Blancho betont ein ums andere Mal, der IZRS sei gegen Gewalt und für die Religionsfreiheit.




Es führt aber dennoch ein direkter Weg von Therwil nach Manchester, wo ein Selbstmordattentäter 22 Menschen bei einem Konzert in den Tod riss. Die Schüler, die Baseler Moschee, der IZRS und die Attentäter von Manchester, London und Paris eint eines: ihre Ideologie. Der Satz, der refrainartig nach jedem Terroranschlag ertönt: "Das hat nichts mit dem Islam zu tun", ist nur zum Teil richtig. Richtig ist daran, dass eine überwältigende Mehrheit der in Europa lebenden Muslime ihren Glauben nicht im Sinne des Salafismus oder einer religiös-politisch-radikalen Lesart lebt. Doch genau diese radikale Auslegung ist in muslimischen Staaten –sogar über die Golfregion hinaus - wie auch leider in wachsendem Ausmass unter gewissen muslimischen Gruppierungen in Europa verbreitet. Und sie expandiert mit dem Ziel einer Islamisierung der Muslime und in der Folge der Gesellschaft als Ganzes. 

Der Unterschied zwischen den Vorfällen in Therwil und dem Terror in Manchester ist nur ein gradueller. Die vom Vater indoktrinierten Schüler, die eine Frau nicht berühren dürfen und der Massenmörder von Manchester offenbaren eine Frauenverachtung, die Teil des radikalislamischen Weltbildes ist. Es ist kein Zufall, dass sich die Terroristen in England das Konzert des Teenie-Idols Ariana Grande ausgesucht haben. Ihre Fangemeinde besteht zu 90% aus jungen Mädchen. Sie ist eine der vielen weiblichen Ikonen westlicher Popkultur. Ein Anschlag an ihrem Konzert hat dementsprechenden Symbolcharakter. Wenngleich die realen Folgen der symbolischen Handlungen anders zu bewerten sind, darf man nicht verkennen, dass auch hinter dem verweigerten Handschlag in Therwil oder dem Eintreten des IZRS für die Burka, bzw. den Niqab dieselbe Symbolik steht: Die Nichtanerkennung der Frau als ebenbürtiges, eigenständiges, freies Wesen. Ob hinter dem Schleier oder dem Rauch eines gezündeten Sprengstoffgürtels; die Frau wird zum Verschwinden gebracht. So betrachtet ist der die Handschlagaffäre alles andere als banal. Es ist die erste, kurze Etappe auf dem Weg der Radikalisierung. 

Muss dieser Weg ein Oneway Ticket sein? Führt er zwangsläufig von Therwil nach Manchester? Ich hoffe nicht. 

Unsere Behörden tun gut daran, punkto Prävention und Überwachung eine härtere Gangart einzulegen. Die Diskussion hat bereits begonnen, ob nicht nur Standaktionen und Veranstaltungen salafistischer Kreise zu verbieten sind, sondern auch ganze Organisationen, die sich dieser Ideologie verschrieben haben. Naturgemäss tut sich der liberale Staat schwer damit, Regelungen zu definieren oder gar Verbote auszusprechen, welche die Gesinnung des Individuums berühren. Schliesslich ist es jedem unbenommen zu glauben und zu denken was er will. Wir sollten aber nicht länger dem Trug aufsitzen, dass wir es bei dieser Thematik mit der menschenrechtliche verbürgten Religionsfreiheit zu tun hätten, mögen sich die Gläubigen noch so oft darauf berufen. In Wahrheit weist der Salafismus alle Merkmale einer Sekte auf und steht, was ihr faschistoides Gedankengut angeht, dem Rechtsextremismus in nichts nach. Es ist diese Mischung aus religiösem Fanatismus und politischen Bestrebungen, die ihn zur stärksten Bedrohung macht, welcher sich der Westen nach dem Ende des Kalten Krieges ausgesetzt sieht. 
In Deutschland ging lange die Warnung um: „Wehret den Anfängen!“. Sie hat auch heute nichts an Aktualität eingebüsst.  Dabei können Verbote hierzulande nur eine Massnahme unter vielen sein, um den aggressiv missionierenden Islamismus einzudämmen. Ebenso wichtig wäre es, die giftigen Quellen trocken zu legen und die liegen in der Golfregion, von der aus radikale Moscheen, Prediger und Vereine finanziert werden. Es heisst immer wieder, der Westen solle seine Werte verteidigen. Doch solange Rüstungsdeals und andere lukrative Geschäfte mit Saudi-Arabien, Katar und Konsorten zum Tagesgeschäft gehören, fragt sich, ob uns Geld wichtiger ist als Werte. Schlimmer noch: Ob der Mammon nicht der westliche Wert par excellence ist.


(Dieser Arikel erschien in der reformierten Zeitschrift bref 13/2017 als Kolumne von Bruno Amatruda unter dem Titel "Therwil - Manchester einfach")

Zur Lektüre empfohlen: Saïda Keller-Messahli, Islamistische Drehscheibe Schweiz.

http://www.nzz-libro.ch/keller-messahli-islamistische-drehscheibe-schweiz-moscheen-salafismus.html




Montag, 5. September 2016

Sternstunde Philosophie zur Burkadebatte: Die Hemmung der Philosophinnen

Ich mag die Sternstunde Philosophie sehr gut. Diese eine Sendung (hier nachzuschauen) zum Thema Burka aber ist ein Lehrstück in Sachen Hemmung und Selbsttabuisierung. Reinhard Merkel ist Rechtsphilosoph, Christine Abbt ist Philosophin. Bleisch ist Moderatorin und ebenfalls Philosophin.



Wenn Philosphen philosophieren, kommen sie vom Hunderste ins Tausendste, das gehört zum Jobprofil.
Was erstaunt, ist, dass es 33 Minuten braucht, bis man auf das Thema zu sprechen kommt, das für alle offensichtlich ist und uns unter den Nägeln brennt: der radikal-fundamentalistische Islam.
Vorher wird über Kleiderordnungen allgemein gesprochen, über unterschiedliche kulturelle Prägungen, die Rolle der Frau und die Integration von Zugezogenen.
Man kann sich als Zuschauer des Eindrucks nicht erwehren, dass Moderatorin Bleisch den problematischen Punkt möglichst zu umschiffen versucht. Als nach 33 Minuten endlich das Wort "Fundamentalismus" fällt und Herr Merkel das Beispiel seines jüdischen Bekannten anführt, welcher sich aus Angst vor muslimischen Jugendlichen nicht mehr mit Kippa auf die Strasse traut, schwenkt Bleisch auf ein Buch des Ehepaars Münkler, das dafür plädiert, das Ganze aus sozialpolitischer Perspektive anzugehen.
Es ist nicht das letzte Mal, das Bleisch hektisch interveniert, wenn Merkel auf die Religion als Ferment des Radikalismus zu sprechen kommen will.

So differenziert die Philosophinnen über Kleidercodes, westliche Werte und kulturelle Spannungen debattieren können, so ratlos wirken sie beim Hauptproblem, dass nämlich eine konservative, ja radikale Reislamisierung unter Muslimen -und hier besonders unter Jugendlichen- zu beobachten ist.

Der expandierende Salafismus, die saudische Ideologie, die problematischen Geldflüsse aus der arabischen Welt, die Moscheen und Vereine (der Sorte IZRS) finanzieren, all das wird NICHT THEMATISIERT.
Nur sehr vorsichtig argumentiert Abbt, sie wolle ja auch nicht, dass ihre weiblichen Verwandten eines Tages mit Niqab herum laufen müssen. Doch alle drei, die Moderatorin und die Gäste sind sich einig, dass ein Burkaverbot falsch wäre.
Woher rührt dieser Eiertanz, der an Selbsttabuisierung grenzt?
Von der Angst, rechten Kreisen in die Hände zu spielen? Von der Angst, sich den Vorwurf der Islamophobie oder des Rassismus einzuhandeln? Sind die Philosophinnen zumal, durch den z.T. heftigen Diskurs über Frauenrechte, irgendwie gehemmt? Sie wirken so.

Religionskritik war immer eine Domäne der Philosophen (Feuerbach, Marx, Nietzsche und viele mehr). Gilt das für den Islam nicht?







Hier eine kurze Zusammenfassung der Sendung:

Was wird besprochen? Es geht um das Recht, sich der Kommunikation zu verweigern. Es wird besprochen, dass nur eine verschwindende Minderheit Burka trägt. Die Frage, ob eine Burka frauenverachtend sei, beantwortet die Philosophin mit "ist problematisch" und weist auf andere Arten von Verhüllung hin zum Beispiel beim Karneval. Immerhin nimmt sie den Begriff "Entindividualisierung" in den Mund, trotzdem ist sie gegen ein Verbot der Burka, wennschon, solle man von "Verhüllungsverbot" reden und ihn ausdehnen.

Reinhard Merkel meint zwar schon, die Burka sei patriarchal-religiöser männlicher Dominanz geschuldet; sie zu verbieten aber wäre "paternalistisch". Das Gespräch geht dann Richtung "was ist mit dem westlichen Frauenbild"? Und darf man aus der Burka eine Kulturdebatte machen? Geht, so Moderatorin Bleisch, das Ganze dann nicht Richtung Kulturalismus, der Rassismus unsererseits sei?

Es dauert eine halbe Stunde (!) bis das Wort "Fundamentalismus" fällt. Die Herren und Damen Philosph_Innen reden also 30 Minuten um den Brei herum, bis einer endlich auf den Punkt kommt. Merkels Satz "Wir haben Indizien für einen weit höheren Fundamentalismus..." wird von der Moderatorin sofort unterbrochen mit dem Hinweis auf Münklers These, es gehe in Wahrheit um sozialpolitische Spannungen. Die hätten nichts mit einer fremden Kultur zu tun, sondern mit der Möglichkeit bzw. Schwierigkeit, an der hiesigen Kultur partizipieren zu können.

Wieder versucht Merkel die kulturell bedingten Spannungen aufzuzeigen, diesmal an einem Beispiel: Ein Bekannter von ihm ist Jude getraut sich in Berlin nicht mehr mit der Kippa herum zu laufen, weil ihm muslimische Jugendliche vor die Füsse spucken. Bleisch fragt nach, ob man aus solchen winzigen Beispielen wirklich eine grosse Burkadebatte lostreten muss.


Merkel belegt mit Umfragewerten den latenten oder offenen Antisemitismus vor allem jugendlicher Muslime. Bleisch wiederum drängt auf Integration, das Ganze habe nicht mit Kultur und Zuwanderung zu tun. Ein Burkaverbot treibe ein Keil zwischen den Gemeinschaften.

Merkel weist zu Recht darauf hin, dass Fundamentalisten per se nicht dialogfähig, bzw. integrierbar sind. Er widerspricht Münkler: das Hauptproblem IST die Religion. Und es seien die islamischen Gemeinschaften gefordert, ihre Jugendlichen so zu erziehen, dass sie Muslime UND loyale Staatsbürger werden und der Radikalisierung widerstehen. Natürlich muss Bleisch nachfragen, mit welchem Recht wir meinen, unsere Kultur  verteidigen  zu müssen. Alle drei sind schliesslich gegen ein Burkaverbot.

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B. Amatruda

Dienstag, 31. Mai 2016

Die wahre Wurzel der Religion: Nahtoderlebnisse und Mystik

Endlich beschäftigt sich ein arrivierter Theologe mit dem Phänomen der Nahtoderlebnisse.
Vieles, was kirchlicherseits bisher zum Thema gesagt wurde, hatte auch immer eine stark apologetische Seite (man vgl. "Ewiges Leben?" von Max Küng oder Knoblauchs religionswissenschaftliches Buch).

Denn die Theologie -und das ist eine ihrer grossen Schwächen- will immer auch innerhalb eines vorgegebenen dogmatischen Rahmens Aussagen machen. Da werden die Nahtodberichte zwar zur Kenntnis genommen, dann aber aufgrund des Dogmas der Auferstehung relativiert. Herbert Koch nimmt sich in seinem neuesten Buch der Materie unvoreingenommen an und kommt zu überraschenden Schlüssen. Einer davon bestätigt meine alte Vermutung, dass der Apostel Paulus so etwas wie ein Nahtoderlebnis oder zumindest eine out-of-body-experience gehabt haben muss, welches sein Leben komplett umgekrempelt hat. Hier der Link dazu:







 Immer mehr komme ich zur Überzeugung, dass die eigentliche Wurzel aller Religion nicht die äussere "Offenbarung" einer Gottheit ist, sondern dass innere Erleben ausserordentlicher, alles Bekannte sprengender (sprich: trans-zendenter) Zustände ist. Dies kann völlig unerwartet geschehen oder aber anhand meditativer, kontemplativer Übungen herbeigeführt werden, wie in der Mystik.






Das Ernstnehmen solcher Zustände stellt einen Widerspruch dar gegen ein rein materialistisches Verständnis der Welt und des Lebens. Gleichzeitig auch gegen ein Verständnis von Religion als Machtinstrument und Organisation. Was sowohl Mystiker wie auch Nahtoderfahrene berichten, übersteigt jegliche Vorstellungen von Gott, Liebe, Zeit und Raum, Körper und Seele. Man bemerke nur mal die immer wieder auftauchenden Strukturmerkmale in diesem Radiobericht:

Berichte von Nahtoderfahrungen

Eine kurze Zusammenfassung findet man auch im ersten Post auf diesem Blog.


Wie Herbert Koch bin auch ich der Meinung, die Kirchen sollten sich mit dem Thema näher und unvoreingenommen auseinander setzen, ohne es gleich in die Esoterik-Ecke zu stellen.

B. Amatruda