Irgendwann verlor die Kirche ihre Macht, den Menschen
moralische Vorgaben zu machen.
Als sie es noch tat, war die Welt in Ordnung. Sie
funktionierte nämlich wie eine Familie: Die Eltern setzten die Standards, die
Kinder wählten zwischen Gehorsam, offener Rebellion und vorgetäuschtem Gehorsam
(ausser Haus tat man, was man wollte). Doch mit dem Machtverlust der
Mutter Kirche hielt nicht etwa die moralische Befreiung Einzug, sondern nun
gingen die Kinder aufeinander los. Ernährungsgewohnheiten, medizinische
Entscheidungen, Kauf- und Abstimmungsverhalten: Es gibt keinen Bereich, der
nicht zur Frage der Moral erhoben wird und einen permanenten gesellschaftlichen
Antagonismus kreiert: Impfende und Impfgegner, Stillende gegen Flaschende,
Vegetarier und Grillmeister, Vaterlandsverräter gegen Fremdenfeinde. Das
Verstörende ist ja nicht, dass hier verschiedene Ansichten auf einander
prallen, sondern die an Raserei grenzende emotionale Vehemenz, mit welcher sich
die Menschen gegenseitig bekämpfen. So als hinge die eigene Existenz an der
Frage „Energiesparlampen oder Glühbirnen?“.
Jede Gemeinschaft bildet Sitten, Normen und Werte aus,
das liegt in ihrer Natur. Traditionellerweise sind diese aber eingebettet in
ein grösseres weltanschauliches Ganzes. Wo dieses Ganze wegfällt, kann es
passieren, dass sich die Moral an seine Stelle setzt und als Sinnersatz
fungiert. Aus Moral wird so Moralismus.
Des Moralisten Verlust der Verhältnismässigkeit, das
Festhalten an der eigenen Meinung wie an einem Strohhalm, der Tunnelblick: Mich
erinnert das an Süchtige. Der Alkoholiker, der auf sein Trinkverhalten
aufmerksam gemacht wird, fühlt sich im Innersten angegriffen und reagiert mit
totaler Abwehr. Genauso wie die Linken, als man sie auf die stalinistischen
Verbrechen hinwies. Oder die Bürgerlichen, wenn man das imperialistische
Gebaren des Westens anprangerte. Denn Sucht, auch Moralinsucht, führt zu
verzerrter Wahrnehmung. Die Sucht setzt sich an die Stelle des Ichs und muss
gegen rationale Argumente geschützt werden. Erzählen Sie einem überzeugten
Fleischesser von den Zuständen in Mastbetrieben. Oder einem Veganer von den
gesundheitlichen Risiken, denen er sein Kind aussetzt. Sie werden
niedergebrüllt werden wie Frau Merkel von der Pegida und wie Frau Petry von der
Antifa.
Und dann diese Dynamik: Sucht kriegt den Hals nicht
voll. Niemand kann zwei Zigaretten am Tag rauchen, innerhalb weniger Wochen
wird daraus ein Päckchen. Mit dem Moralin verhält es sich gleich. Nach jeder
moralischen Errungenschaft wird die Messlatte höher gelegt. Vor ein paar Jahren
klagte eine Schweizerische Organisation gegen eine Waschmittelfirma. Diese habe
durch das Weisswaschen eines braunen Teddybären in einem Werbespot rassistische
Stereotypen bedient. Der Realitätsverlust des Moralinsüchtigen treibt ihn immer
an den Rand der Blamage. Von Moral wird man nie satt. Das hat mit dem
idealistischen Charakter von Normen zu tun. Das Ideal selbst kann gar nie
erreicht werden, es dient aber als Orientierungspunkt. Mit Moral, vor allem in
ihrer militanten Erscheinungsform, lassen sich allerdings eigene tiefsitzende Probleme
vortrefflich verdecken. Ich habe Feministinnen getroffen, die ihr privates
Vaterproblem auf die ganze Männerwelt projiziert haben. Und Ausländer, die
rassistisch gegen andere Ausländergruppen hetzen, weil diesen angeblich das
Leben so viel einfacher gemacht wird.
Das Loch, das der Süchtige in sich verspürt, stopft
noch so viel Heroin nicht. Das eigentliche Problem des Menschen kann ebenso wenig mit Moral gelöst
werden. Moral ist paulinisch-theologisch gesprochen also das Gesetz, das den
Menschen stetig überführt.
Der Moralinsüchtige setzt die Moral absolut. Wie dem
Süchtigen sein Suchtmittel heilig ist, erlangt in nachkirchlichen Zeiten ein
beliebiger moralischer Inhalt sakralen Status. Wehe jemand ist gegen Demokratie
oder gegen Menschenrechte. Er gilt sofort als Ketzer.
Dem Egoismus des Süchtigen entspricht der Narzissmus
des Moralisten. Die gerechte Sache, um die es ihm angeblich geht, dient nur als
Staffage für seine Selbstdarstellung. Deshalb umgibt sich der Moralinsüchtige
gerne mit Gleichgesinnten. Sie bilden den Resonanzraum seines Egos, wie beim
Süchtigen die Opiumhöhle und beim Trinker die Saufkumpane.
Die evangelische Kirche verkündet doch das Evangelium
der Freiheit. Wer könnte die Moralisten besser
von ihrer Sucht befreien?
(erschienen in brefmagazin 2017)
(erschienen in brefmagazin 2017)